Der tiefere Sinn des Waldes

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Zara entführte mich in den Wald.
Wir liefen in einem lockeren Tempo, doch statt auf meine Umgebung zu achten, war ich einzig auf das Mädchen mit den roten Locken vor mir fixiert.
Zaras Gang war schwungvoll, es schien beinahe so, als würde sie über den Waldboden hüpfen. Sie lief noch immer barfuß und mit jedem Schritt vergruben sich ihre Zehe in den aufgelockerten Waldboden. Doch dies schien sie nicht zu stören.

„Was willst du mir hier denn genau zeigen?", fragte ich schlussendlich nach, nachdem wir weitere fünf Minuten schweigend über Äste gestiegen waren und Bäumen ausgewichen sind. Wollte sie heute vielleicht alleine mit mir zu der Grotte? Auch wenn ich den See und unseren geheimen Platz sehr mochte, hoffte ich es nicht, denn weder hatte ich ein Handtuch, noch eine Badehose dabei.

„Du wolltest doch meine Sichtweise kennenlernen. Und wir haben nur diesen Sommer Zeit. Komm mit." Dies war Zaras einzige Antwort und ich versuchte mich damit zufrieden zu geben.

Denn immerhin war sie Zara, sie würde mir später noch genug erklären. Da war ich mir sicher.
Als ich ihr weiterhin folgte, merkte ich schnell, dass wir einen anderen Weg als den zur Grotte einschlugen.

Es war fast vollkommen still im Wald. Nur zwischendurch zwitscherten die Vögel ihr Morgenlied und man hörte die Geräusche, die wir beim Gehen verursachten. Mein Blick fiel erneut auf Zaras Füße. Der orangene Nagellack blätterte so langsam ab und der Dreck hatte sich bereits auf ihrer Haut abgesetzt.

„Warum läufst du eigentlich meistens barfuß?", stellte ich schließlich die Frage, die mir bereits seit einiger Zeit im Kopf herumschwirrte.

Ich erwartete eine philosophische Antwort, doch zu meinem Erstaunen meinte sie nur: „Ich mag Schuhe nicht so gerne."

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Zara mochte also keine Schuhe?
Bevor ich jedoch erneut nachhaken konnte, blieb Zara plötzlich stehen und drehte sich zu mir um. Als ich meinen Mund öffnete, um sie zu fragen, was sie mir hier genau zeigen wollte, hielt sie mir schlagartig eine Hand vor den Mund.
„Psst", machte sie und legte einen Finger auf ihre Lippen.
Ich selbst konnte jedoch nicht mehr atmen. Ihre plötzliche Nähe brachte meinen gesamten Körper wieder durcheinander. Selbst blinzeln konnte ich nicht.
Denn wie könnte ich es nur ertragen, auch nur eine Nanosekunde lang meine Augen vor Zara zu verschließen?

„Hörst du das, Max?"

Nur mit größter Anstrengung konnte ich mich auf etwas anderes als auf Zara konzentrieren; Ich horchte in die leisen Geräusche des Waldes hinein.
Der Gesang der Vögel, das Rascheln der Bäume, das Knacken im Unterholz.
All das waren Sachen, die man mit einem Wald verband und erwartete. Worauf wollte Zara genau hinaus?

Unsicher schüttelte ich den Kopf und Zara fing darauf an zu lächeln.
„Das ist die Seele des Waldes", fing sie an zu erklären und ließ ihre Hand von meinem Mund sinken. „Das Rascheln der Bäume ist der Atem, das Gezwitscher der Vögel die Stimmen, das leise Rauschen des Wassers ist das Blut, welches alles antreibt, und die vielen Tiere sind die Sinneswahrnehmungen." Sie drehte sich einmal mit ausgestreckten Armen im Kreis. „Sehen, Hören, Riechen, Fühlen, Schmecken. Alles hat seine eigene Seele und verbindet sich mit den anderen Seelen zu einem großen Ganzen. Verstehst du, was ich meine?"

Sie verharrte in ihrer Bewegung und musterte mich mit schief gelegtem Kopf. Sie wartete auf eine Antwort und sofort nickte ich, bevor ich meinen Blick endlich genauer über meine Umgebung schweifen ließ. Es war einfach der Wahnsinn, wie Zara für alles und jenem eine Erklärung fand.

„Und was ist der tiefere Sinn des Waldes?" Ich hatte eine Vermutung, doch ich wollte die Worte selbst aus Zaras Mund hören.

Ich beobachtete sie dabei, wie sie mit langsamen Schritten auf einen Baum zuging und sanft über die Rinde strich. „Es ist die Natürlichkeit, Max. Auf der ganzen Welt könnte sich Schlimmes abspielen, geht man jedoch in einen Wald, der noch eine Seele besitzt, betritt man eine andere Welt." Ihre grünen Augen leuchteten und ich nahm ihre Worte in mich auf, als würde ich allein von ihnen überleben können. „Er gibt einen Ruhe, Erholung und besonders Hoffnung. Wald bedeutet Leben in vieler Hinsicht. Wenn du irgendwann so traurig bist, dass du nicht mehr weiter weißt, dann gehe in den Wald. Danach wirst du wissen, was zu tun ist. Zumindest schenkt mir der Wald immer die benötigte Ruhe."

Sie ließ von dem Baum ab und ging auf einen kleinen Beerenstrauch zu, der nur wenige Meter entfernt wuchs. Einzelne rote Beeren zierten diesen und mit geschickten Bewegungen pflückte sie einige von ihnen.

„Probiere sie. Man schmeckt förmlich die Seele des Waldes in ihnen."
Sie reichte mir welche in ihrer offenen Handfläche an, doch ich betrachtete sie nur leicht skeptisch, bevor ich eine in die Hand nahm. „Sind das nicht Vogelbeeren?"

Sie warf ihren Kopf in den Nacken und fing schallend an zu lachen. Als sie sich wieder beruhigt hatte, steckte sie sich grinsend mehrere Beeren in den Mund und kaute demonstrativ auf ihnen herum. „Ach, Max! Das sind doch keine Vogelbeeren!"

Als sie sie hinunterschluckte, tat ich es ihr gleich und steckte mir die Beere in den Mund.
Keine Sekunde später überrollte mich die Geschmacksexplosion und sofort pflückte ich mir selbst noch einige der Beeren von dem Strauch.

„Die sind unglaublich lecker", gab ich zu, als ich eine Beere nach der anderen verschlang.
„Ich weiß." Zara grinste von einem Ohr zum anderen und fing an zu lachen, als sie mich beobachtete.
Als sie dann auch noch Schluckauf bekam, konnte auch ich nicht mehr an mich halten und prustete los. Es hörte sich einfach so verdammt komisch an und verzweifelt versuchte Zara ihn zu unterdrücken, wodurch sie jedoch nur noch mehr herumhickste.

Es endete damit, dass wir lachend auf dem Waldboden lagen und uns die schmerzenden Bäuche halten mussten.
Es brauchte einige Minuten, um uns wieder zu beruhigen. Als es wieder fast vollkommen still war, sprach Zara auf einmal: „Du bist ein guter Mensch."

Ich starrte verblüfft auf das Blätterdach über uns und blinzelte. In meinem Kopf ratterte es und ich versuchte zu verstehen, was sie damit aussagen wollte.
„Wie meinst du das?", fragte ich schließlich nach und drehte mich auf die Seite, um sie ansehen zu können.

Sie hatte ihre Augen geschlossen und ihre Hände unter ihrem Kopf verschränkt. Leicht öffnete sie ihre Augen und sah mich für einen kurzen Moment zwischen halb geschlossenen Augen an, bevor sie sie wieder schloss.

Es verging eine weitere Minute, bevor sie endlich sprach.
Ihre Worte waren leise und fast hätte ich sie nicht verstanden: „Was ich damit meine? Dass ich deinen tieferen Sinn jetzt kenne. Das meine ich damit, Max."

Ich brauchte einen Moment, bis ich verstanden hatte, was sie gerade gesagt hatte.
Meinen eigenen tieferen Sinn?
Also besaß ich auch einen?
Bei all den wunderbaren tieferen Sinnen, die es bereits gab, was könnte nur mein eigener für mich bereithalten?

Voller Spannung beugte ich mich weiter zu Zara. „Und was ist mein tieferer Sinn?"

„Das kann ich dir leider noch nicht sagen. Irgendwann, wenn der richtige Augenblick da ist, dann werde ich es dir erzählen."

Sie öffnete blinzelnd ihre Augen und als sie sah, wie ich sie anstarrte, lächelte sie träge. „Das Frühstück müsste jeden Moment fertig sein. Lass uns zurückgehen."

Ich nickte und gab mich geschlagen, denn ich wusste, dass sie mir heute nicht mehr verraten würde, was mein tieferer Sinn war. Ich stand auf und streckte Zara meine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen.

Zu zweit machten wir uns auf dem Weg zurück.
Doch meine Gedanken kreisten weiterhin nur um eine einzige Sache: Nämlich um die Frage, was Zara als meinen persönlichen tieferen Sinn sehen könnte.
Es könnte so vieles sein und ich hatte keinerlei Ahnung, in welche Richtung es gehen könnte.
War mein eigener tieferer Sinn positiv?
Oder doch negativ?

Das Mädchen aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt