Zu spät

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Irgendwann löste sich Amy von mir und stotterte: „I-ich wollte dich... Es gibt Abendessen..."
Ich schüttelte meinen Kopf. Wie sollte ich denn nun an Essen denken, geschweige denn etwas zu mir nehmen?

„Du kannst mir nicht sagen, dass du keinen Hunger hast, du hast seit einem Tag nichts mehr gegessen, Max."
Amy rappelte sich auf und zog mich erbarmungslos mit sich.
Doch komischerweise hatte ich wirklich keinen Hunger.
Alle Gedanken an Zara, den gestrigen Tag, ihren schlafenden Körper auf der Wiese und diese Schreie verdarben mir meinen Appetit.

Doch Amy ließ mich spüren, dass sie keine Widerworte duldete, als sie mich in den Speisesaal zerrte.

Vielleicht war es besser so, denn so musste ich nicht der Zerstörung gegenüber treten, die ich in den letzten Stunden verursacht hatte. Aber als wir dann den Speisesaal betraten, wäre ich am liebsten sofort wieder geflüchtet. Dean saß mit verheulten Augen vor seinem Brot und starrte auf Zaras Platz, der nun so fehl am Platz schien.
Delores Haut war noch durchsichtiger als sonst und als sie den Löffel mit der Suppe zu ihrem Mund führte, zitterte sie so stark, dass der Großteil ihrer Suppe auf ihrem schmuddeligen Kleid landete.
Doch wieder einmal lotste Amy mich zu meinen Platz und drückte mich regelrecht in den Stuhl. Ich starrte auf den Platz mir gegenüber.
War es wirklich erst gestern gewesen, als mir von dort aus zwei grüne Augen zu gezwinkert hatten? Ich schluckte und senkte meinen Blick.

„Ich kann hier nicht sitzen", nuschelte ich, stand auf und flüchtete aus dem Speisesaal, bevor mich irgendjemand daran hindern konnte. Ich hörte noch, wie Amy mir hinterherrief, doch diesmal ich ignorierte sie.

Wo sollte ich hin?
Mir fiel das Dach ein, aber als ich nur daran dachte, alleine auf dem Dachvorsprung zu sitzen, drehte sich mein Magen um. Ich konnte nicht durch ihr Zimmer gehen.
Konnte mir nicht ihre Zeichnungen anschauen, an ihrem Bett entlanglaufen und der gläsernen Statue Hallo sagen.
Ich konnte nicht zu dem Ort gehen, welcher den Tod beherbergte.

Mir blieb nur noch eine Option und ohne lange darüber nachzudenken, riss ich die Eingangstür auf und stürmte aus dem Haus. Ich wusste nicht, wieso ich rannte, doch komischerweise fühlte ich mich dadurch besser. Mein Herz fühlte sich leichter an und bereits als ich den Wald erreicht hatte, hatte ich das Gefühl zumindest ein Stückchen dem Gefängnis entkommen zu sein.

Ich bahnte mir einen Weg durch das noch nasse Gestrüpp, wich Baumstämmen aus und rutschte mehrere Male auf dem durchweichten Waldboden aus.
Als ich das vierte Mal hinfiel, blieb ich keuchend liegen und atmete stoßweise gegen die vergammelten Blätter, auf denen ich lag.

Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich auf meinen Atem und atmete gleichzeitig den Geruch des Waldes ein.

Es roch beinahe nach Zara.

Blinzelnd hob ich meinen Kopf, in der Hoffnung, dass sie vor mir stehen würde und alles nur ein gemeiner Spaß war, um mir den tieferen Sinn der Trauer zu zeigen.
Ich würde weinen vor Glück, grinsen, lachen und sie gleichzeitig verfluchen.
Sie umarmen, sie küssen, sie herumwirbeln und in den See schmeißen.
Ich würde sie anschreien und ihr das Versprechen abnehmen, dass sie mir so etwas nie mehr antuen würde.

Danach würde ich ihr die drei Wörter sagen, die ich gestern nicht sagen konnte und mir nun bedeutungsschwer auf der Zunge lagen.

Aber ein weiteres Mal zerschellte alle meine Hoffnung auf dem Boden der Tatsachen, als ich nichts weiter vor mir sah als ein Gestrüpp voller Beeren.

Wie naiv ich doch war.
Wie bescheuert.
Was tat ich hier?
Warum machte ich mir immer wieder Hoffnung, dass sie noch da wäre?
Mich nicht verlassen hatte?

Verdammt nochmal!
Zara war weg und zwar für immer.
Sie hatte mich verlassen und das durch meinen Fehler.
Ich hatte es nicht anders verdient.
Sie aber schon.
Sie hatte es nicht verdient.

Mir kamen erneut die Tränen und mit meinen schlammverkrusteten Händen wischte ich sie energisch weg.
Mein Blick fiel erneut auf den Beerenstrauch und mein Magen fing an zu grummeln.

Der Strauch.
Es war nicht irgendeiner, sondern unser Strauch.
Zaras und meiner.
Wackelig stand ich auf und taumelte in dessen Richtung
Durch den Sturm und die vielen Regenfälle waren die meisten Beeren matschig und nicht mehr genießbar.
Ein paar einzelne konnte ich retten, dann legte ich mich auf den Waldboden, an die gleiche Stelle, an der ich erst ein paar Tage zuvor gelegen hatte. Mit langsamen Bewegungen schob ich mir beinahe mechanisch die Früchte in den Mund.
Es war mir egal, dass ich im Schlamm lag und wahrscheinlich genauso dreckig war wie der Waldboden.
Ich lag nur schweigend da, horchte nach den typischen Waldgeräuschen und erinnerte mich an Zaras Worte:

„Das ist die Seele des Waldes. Das Rascheln der Bäume ist der Atem, das Gezwitscher der Vögel die Stimmen, das leise Rauschen des Wassers ist das Blut, welches alles antreibt, und die vielen Tiere sind die Sinneswahrnehmungen. Sehen, Hören, Riechen, Fühlen, Schmecken. Alles hat seine eigene Seele und verbindet sich mit den anderen Seelen zu einem großen Ganzen. Verstehst du was ich meine?"

Und ich hatte es verstanden. Ich verstand es jetzt noch immer.

Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich nur noch auf das Rauschen der Blätter, das Knacken von Ästen und dem Abendgesang der Vögel. Es war wunderschön.
Sofort schoss mir eine weitere Rede von Zara durch den Kopf. Es schien beinahe so, als würde ich jedes einzelne Wort von ihr auswendig können.

„Es ist die Natürlichkeit, Max. Auf der ganzen Welt könnte sich Schlimmes abspielen, geht man jedoch in einen Wald, der noch eine Seele besitzt, betritt man eine andere Welt. Er gibt einem Ruhe, Erholung und besonders Hoffnung. Wald bedeutet Leben in vieler Hinsicht. „Wenn du irgendwann so traurig bist, dass du nicht mehr weiter weißt, dann gehe in den Wald. Danach wirst du wissen, was zu tun ist. Zumindest schenkt mir der Wald immer die benötigte Ruhe."

Aber nun war ich hier und genau diese Ruhe, Erholung und Hoffnung gab mir der Wald nicht.
Ich musste noch immer an Zara denken.
Noch immer wusste ich nicht, was ich tun sollte.
Und wie sollte der Wald mir dabei helfen?

Kopfschüttelnd stand ich auf und trottete zurück.
Ich hörte es in der Ferne grummeln und passend zum Gewitter setzte ein leichter Nieselregen ein.
Es passte so sehr zu meinen Gefühlen. Als ich mein Gesicht gen Himmel richtete und die Regentropfen mir über mein Gesicht flossen, wünschte ich mir, genau solch ein Regentropfen werden zu können.
Denn dann würde mich nicht das unaufhörliche Gefühl der Trauer zerreißen.
Dann müsste ich nicht an diesem Ort der Trauer gefangen bleiben.
Dann müsste ich mich nicht mit meinen Schuldgefühlen herumschlagen.
Aber vor allem müsste ich mir dann keine Gedanken darüber machen, dass ich zu dem einzigen Mädchen, das ich je geliebt hatte, nie die drei magischen Wörter gesagt hatte.

Und jetzt war es zu spät.
Zu spät für Worte.
Zu spät für Handlungen.
Zu spät für einen einzigen Blick aus ihren grünen Augen.
Einfach für alles.

Die Regentropfen durchnässten meine Sachen und ließen den angetrockneten Schlamm wieder flüssig werden.
Aber mich ließen sie fortbestehen.

Das Mädchen aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt