Versprechen

15.2K 1.5K 27
                                    

Diesmal wachte ich nicht von Zara auf, sondern davon, dass ich beinahe vom Dach fiel.
„Oh Gott!", rief ich und versuchte mein Herz zu beruhigen.
Wäre ja schön doof, wenn ich dem Fall-Tod entkam, aber kurz darauf an einem Herzinfarkt starb.
Wie dumm konnte man denn auch sein und auf einem Dach einschlafen? Ich musste lebensmüde sein.
„Schrei doch nicht so", sagte Zara fröhlich. Auch wenn Zara ihre Eigenarten besaß, kam mir das ziemlich verdächtigt vor. Ich drehte mit zusammen gekniffenen Augen zu ihr um. „Wolltest du mich etwa umbringen?"
„Nein!"
„Aber du hast mich geschubst?"
„Naja, schubsen kann man das nun wirklich nicht nen-"
Ich unterbrach sie: „Oh mein Gott, Zara! Ich hätte vom Dach fallen können und dann läge ich dort in der dreckigen Erde und mein letzter Gedanke wäre, dass ich Dreck in der Nase habe und niesen musste!"
Ich sprang auf. Zara tat es mir gleich.
„Man fällt nicht so leicht von einem Dach herunter, Max."
„Ach wirklich?" Meine Stimme klang ungewohnt sarkastisch, vor allem als ich weiterredete: „Man wird auch nicht leicht überfahren. Ich glaube, du solltest mich das nächste Mal vor ein Auto schubsen. Denn das ist sicherlich nicht nur sehr amüsant, sondern auch ziemlich cool, da man ja dabei nicht so einfach überfahren werden kann, oder?" In Rage geredet fuhr ich mir durch mein wirr abstehendes braunes Haar. Dann blickte ich Zara wieder an, welche nun wirklich verletzt aussah.

Es tat mir sofort wieder leid. Mit welchem Recht warf ich ihr eigentlich die Sachen vor dem Kopf? Seit wann war ich dieses Arschloch, zu dem ich eben mutiert war?
Sie schien die Veränderung in meinem Gesichtsausdruck bemerkt zu haben, denn bevor ich zu einer Entschuldigung ansetzen konnte, schüttelte sie den Kopf und kam mir zuvor: „Ist schon okay. Kein Lebewesen liegt vollkommen richtig oder falsch. Aber unsere persönliche Sichtweise soll uns und nicht anderen weiterhelfen."
Dann richtete sie sich auf und lief mit schnellen Schritten über das Dach.
Es sah wie eine Flucht aus.
Eine Flucht vor mir.

„Zara, warte!", rief ich hier hinterher. „Bitte bleib', ich meinte es nicht so. Es tut mir leid, Zara!" Mein Herz schmerzte, es wollte Zara nicht so weit weg wissen.
Als meine Worte sie erreichten, blieb sie kurz stehen. Sie war bereits auf dem halben Weg zum Fenster und warf mir einen Blick über ihre Schulter zu: „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Nur ich denke, jeder sollte Zeit für sich haben und über seine eigenen Sichtweisen nachdenken..."

Ich spürte, wie sich erneut die Verzweiflung in mir breit machte. Ich wollte nicht, dass Zara so sprach. Denn dann bekam ich das Gefühl nicht los, dass sie sich von mir distanzieren wollte. „Ich weiß nicht, was meine Sichtweisen sind!", rief ich ihr erneut zu, bevor sie sich dazu entscheiden könnte, weiter auf Abstand zu gehen. „Manche Sachen habe ich gar nicht wahrgenommen... bis du sie mir gezeigt hast. Du hast es mir erklärt und dabei habe ich meine eigene Sichtweise entwickelt. Aber ich brauche dich. Bitte!" Meine Stimme war wie ein Krächzen und ich wusste nicht, ob sie mich überhaupt verstanden hatte. Doch dann bemerkte ich wie sie ihren Kopf gesenkt hielt und offensichtlich über meine Worte nachzudenken schien. Hoffnung breitete sich in meinem Körper aus, als sie ihren Kopf wieder hob und vom Dach aus auf diesen Dachvorsprung zu mir hinunter sah.

„Ich werde dir helfen, Max. Ich verspreche dir, dass ich dir alles auf der Welt zeigen werde."
Erleichtert lächelte ich und kletterte zu ihr nach oben. Ich schlang meine Arme um ihren zierlichen Körper, aber so waghalsig wie heute Nacht war ich nicht, dass ich es erneut riskieren würde, sie zu küssen. Wobei ich gerade nichts lieber getan hätte.
Diese neue Erkenntnis verwirrte mich und nun kreisten meine Gedanken wie von selbst in eine Art Telekom-Dauerschleife um diesen Kuss heute Nacht.
Ich hatte sie wirklich geküsst!

Etwas, das ich niemals für möglich gehalten hatte.
Ja, nicht einmal damit gerechnet hatte, das es passieren würde, als ich vor wenigen Tagen hier auf diesem Anwesen irgendwo im Nirgendwo von Alabamas Weiten angekommen war.

Immer wieder musste ich daran denken, wie ihre Hände sanft mit meinen Haaren gespielt hatten und für einen kurzen Moment erlaubte ich es mir die Augen zu schließen und tief den Duft von dem blumig riechenden Shampoo einzusaugen, den Zaras Haare ausstrahlte.
Als wir uns voneinander lösten, fragte ich sie leise: „Versprochen?"
Sie lächelte ihr legendäres Mona-Lisa-Lächeln und antwortete: „Versprochen." Sie blinzelte und nach kurzer Zeit fügte sie hinzu: „Nun komm, die Sonne schlägt bereits ihren Lebensweg ein und ich will dir noch etwas zeigen."

Wie komisch es doch war, wie sehr mich dieses Mädchen verwirren und wütend machen konnte, wie sehr sie mich faszinierte und ich mich bei ihr wie ein anderer Mensch fühlte. Wie sehr ich mich immer wieder in ihr verlor und mich doch zugleich immer wieder selbst fand.
Man konnte es nicht anders sagen, Zara war einzigartig.

Das Mädchen aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt