Nur einen einzigen Wunsch

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Gefühlte Ewigkeiten saß ich vor der Toilette.
Mein Kopf war wie leergefegt und ich konnte nur auf die unglaublich hässlichen Wandfliesen starren.
Kein Geräusch war zu vernehmen, das einzige, was ich hörte, war mein eigener Atem, der meine Lippen viel zu hastig verließ.

Irgendwann stand ich mit wackeligen Beinen auf, drückte auf die Spülung und wusch mir meinen Mund und mein Gesicht am Waschbecken mit Wasser. Als ich mein Gesicht abtrocknete, fiel mein Blick auf mein Spiegelbild.

Rot geschwollene Augen und Tränenspuren zierten mein Gesicht.
Ich hätte niemals gedacht, dass ich so enden würde.
Als ein Mörder.

Schnell wandte ich meinen Blick ab und verließ fluchtartig das Badezimmer. Ich konnte nicht länger hierbleiben.
Doch kaum stand ich auf den Flur, wusste ich nicht, wohin ich sonst gehen sollte. Ziellos fing ich an herumzulaufen.

Wo war Zara?
Ohne sie wirkte das Haus auf einmal so anders. Ich wusste sofort, dass sie nicht mehr hier war. Weder ihre Seele, noch ihr Körper.

Ich bekam einen erneuten Würgereiz, als ich daran dachte, dass sie womöglich gerade auf einer eiskalten Stahlliege lag.
In einem engen Raum.
Wie Puppen in einem Regal einsortiert mit Papierstreifen an den Füßen.

Meine Beine sackten unter mir weg und ich fiel auf die Knie. Ich stützte mich mit meinen Händen am Boden ab, als erneut die Tränen kamen. Mein Blick fiel auf die Treppe und sofort überkamen mich die Erinnerungen an unsere erste Begegnung.

„Meinst du etwa, das Risiko des Fallens hat keinen tieferen Sinn als der eines Blickes? Dann balanciere jetzt so wie ich und sage mir danach, dass das keinen tieferen Sinn hat!"

Das hatte sie zu mir gesagt.
Doch Zara war gefallen.

Ich schüttelte meinen Kopf, damit ich ihre Stimme aus meinem Kopf bekam.
Schnell rappelte ich mich hoch und stolperte in mein Zimmer. Dort wollte ich in mein Bett fallen und einfach nur den Rest meines Lebens dort verweilen, doch dann fiel mein Blick auf das kleine mit dem Tuch abgedeckte Einmachglas, das auf meinem Nachtisch stand.

Sofort überfluteten mich die Erinnerungen wieder.
Das erste Mal in der Grotte der Wünsche, wie ich nach den Steinen der Wünsche getaucht hatte.
Wie Zara sich soweit vorgelehnt hatte, dass sie jeden Moment ins Wasser hätte fallen können.

„Jetzt kannst du dir was wünschen."

Es war fast so, als wäre sie noch hier und hätte mir nun gesagt, dass ich mir etwas wünschen sollte.

Aber sie war es nicht!
Zara war fort!
Aber es war ein Widerspruch in sich selbst.
Zara konnte doch nicht einfach verschwinden, denn sie war doch Zara.
Zara, das außergewöhnlichste und widersprüchlichste Mädchen, welches ich je kennen gelernt hatte.
Zara war wie alles und nichts zu gleich.

„Zara war alles und nun ist sie nichts", flüsterte ich, als es mir bewusst wurde. Für einen Moment verschlug mir diese grausame Erkenntnis den Atem.

Und dann traf es mich mit der Kraft eines Zehntonner-Lkws.
Voller Wut und Verzweiflung fegte ich das Glas von meinem Nachtschrank.
Wie in Zeitlupe zerbrach das Glas in tausend Scherben und das Salzwasser ergoss sich über den Holzfußboden.
Welche Ironie.
Denn genauso fühlte ich mich und werde mich auch immer so fühlen.
In tausend Scherben auf dem Boden liegend.
Genauso wie die Seele und der Geist des Jungen aus Zaras Legende.

„Kann ich mir den Wunsch vielleicht auch aufheben?", hatte ich damals gefragt. Ihre Antwort hallte laut und deutlich in meinen Ohren nach. Es schien, als hätte ich all unsere Unterhaltungen abgespeichert, kein einziges Wort von ihr hatte ich vergessen.

„Ja, klar, aber dann musst du ihn in ein Glas mit Salzwasser legen und unter ein Tuch verbergen, ansonsten verliert er seine Wirkung."

Damals wusste ich nicht, was ich mir wünschen sollte, doch nun hatte ich nur einen einzigen Wunsch.

Ich ließ mich inmitten der Scherben fallen und griff nach dem runden Stein.

Es war mir egal, dass die Scherben meine Beine zerschrammten und meine Hände aufschlitzten, denn all der Schmerz war nur ein Pochen.
Ein Pochen im Vergleich zum Schmerz des Verlustes.

Ich drückte den Stein fest in meine Hand und umschloss ihn mit meiner anderen. Scherben drückten gegen meine Haut, aber ich schloss nur meine Augen und schrie meinen Wunsch förmlich aus meinen Körper: „Mach, dass Zara wieder da ist! Zara soll wieder leben! Das ist mein einziger Wunsch. Bitte! Bitte! Zara, ohne sie... Oh Gott... Sie soll wieder leben, wieder bei mir sein und mir ihr Versprechen einhalten. Sie hat es mir doch versprochen! Bitte, Zara soll wieder lebendig sein!"

Als ich meine Augen wieder öffnete, zerschellte meine naive Hoffnung auf dem Boden wie die Scherben.

Natürlich stand vor mir keine Zara.
Keine Zara.
Nie wieder.

Ich blickte wie im Trance auf meine zusammengeballten Hände.Blut quoll hervor.Langsam öffnete ich sie und ließ den Stein der Wünsche inmitten der Scherben fallen.Das frühere leuchtende Weiß war nun ein dumpfes Grau, überzogen mit Rot.Mein Blut.Aber er leuchtete längst nicht mehr in diesem geheimnisvollen Weiß.Nein.Denn die Magie des Steines war mit Zara gestorben.

Das Mädchen aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt