Delores setzte sich zu mir auf den Boden und betrachtete die gläserne Statue gedankenverloren.
Ich jedoch konnte sie nur von der Seite aus anstarren. Ich realisierte kaum, dass es wirklich sie war, die sich gerade neben mich gesetzt hatte. Nun war ich ihr so nah, wie noch nie zuvor und ich erkannte, dass leichte Sommersprossen ihre bereits leicht faltige Haut zierten.„Wusstest du, dass dieses Mädchen aus Glas Zara viel bedeutet hatte?"
Ich nickte als Antwort und mein Blick glitt wieder zu der gläsernen Ballerina. „Ja, aber... ich weiß nicht warum. Ich habe mitbekommen, wie sie sie um Verzeihung angefleht hatte, aber nie wollte sie mir erzählen, was es genau auf sich hat."Ich bemerkte aus dem Augenwinkel wie Delores nickend eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Es blieb lange Zeit still und es schien so als ob Delores selbst nicht genau wusste, wo sie anfangen sollte zu erzählen.
Schließlich räusperte sie sich und fing mit ruhiger Stimme an zu sprechen: „Es war ein schöner Spätfrühlingstag. Der 28. Mai um genau zu sein." Mit einer Hand fuhr sie über den Stoff ihres Oberteils, während sie nach einer kurzen Pause weitersprach: „Und ab hier werde ich dir die Geschichte eines Mädchens erzählen, das den Namen Zara Thale Wilkson trug und neun Jahre alt war." Sie drehte ihren Kopf in meine Richtung und ihre Augen trafen auf meine. Ihr Blick war so voller Intensivität, dass es mir jeglichen Atem raubte. Innerhalb einer Sekunde wurde mir bewusst, dass dies hier unglaublich wichtig war und ich gut zuhören, mir jedes einzelne Wort merken musste. Denn dies war eine Geschichte, die Delores kein zweites Mal erzählen würde.„An diesem wunderschönen Tag saß sie auf dem Rücksitz des Autos ihrer Eltern. Die Sonne schien, ihr Lieblingslied lief im Radio und die helle Stimme ihrer Mutter hüllte sie ein. Sie waren auf dem Weg zu einer Kunstausstellung, denn ihre Mutter war freiberufliche Künstlerin. Sie war Meißlerin und eine der einzigen, welche auf dieser Ausstellung Stein- und Glasstatuen ausstellen würde. Zumindest das wusste ich aus den Unterlagen, Zara hatte mir nie etwas über ihre Eltern persönlich erzählt, bis auf die Sache, dass ihre Mom immer im Auto gesungen hatte." Ein trauriges Lächeln bildete sich auf ihren Lippen, als sie den Blick von mir abwendete und die Statue geradezu liebevoll betrachtete. „Zaras Vater war mitgekommen. Und so war der ganze Kofferraum vollgestellt mit Glas- und Steinstatuen. Sie müssten noch lange in dem Auto fahren und als sie gerade über eine Landstraße fahren, wurden Zaras Beine müde und sie hatte den Drang aufzustehen. Und da sie es als Neunjährige nicht besser wusste, schnallte sie sich ab, fuhr das Fenster herunter und lehnte sich hinaus, um den Fahrtwind in ihren Haaren spüren zu können..." Mir lief es eiskalt den Rücken herunter, denn ich ahnte bereits, was nun kommen würde. Und auf einmal wusste ich nicht mehr, ob ich wirklich wollte, dass Delores weitersprach. „Was genau dann passierte, hatte sie mir nie erzählt, doch die Polizei und ihre Therapeutin gingen davon aus, dass sich ihre Eltern umgedreht hatten, um sie vom Fenster weg zu zerren. Genau in dem Moment musste es wohl geschehen sein." Für eine Sekunde stockte sie, so als müsste sie Kraft tanken, um die nächsten Worte auszusprechen. Und auch ich spürte, wie mein Herz unsagbar schwer wurde. Noch schwerer, als es sowieso schon vor. „Eine Sekunde hat sie nicht auf die Straße gesehen und schon verlor sie die Kontrolle über das Fahrzeug. Sie kamen von der Landstraße ab, überschlugen sich mehrmals und knallten schließlich gegen einen Baum." Delores keuchte auf und schüttelte immer und immer wieder den Kopf, während sie mit zittriger Stimme fortfuhr: „Zara müsste schon bei dem ersten Überschlag aus dem Auto geschleudert worden sein. Genau das war wahrscheinlich ihr Glück, denn die Statuen ihrer Mutter wurden zu tödlichen Geschossen und selbst wenn das Auto nicht bei dem Aufprall wie ein Akkordeon zusammengepresst worden wäre, wären sie niemals lebendig aus dem Auto herausgekommen..." Ich unterbrach sie nicht, denn ich war viel zu geschockt um überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. „Zara hatte Glück im Unglück. Durch den Aufprall erlitt sie nur Rippenbrüche, eine leichte Gehirnerschütterung und Schnittverletzungen durch die durch die Luft geschleuderten Glassplitter. Zara hatte überlebt, aber nicht ihre Eltern. Sie konnte nichts mehr tun. Und Gott beschütze dieses Mädchen, denn diesen Anblick wird niemand mehr aus dem Kopf bekommen, welcher es gesehen hatte."
Für einen Moment dachte ich, dass Delores bereits zu Ende gesprochen hatte, denn mehrere Minuten lang blieb es still, bevor sie schlussendlich doch den Mund wieder öffnete. Sie sprach so leise, dass ich sie unter normalen Umständen kaum verstanden hätte. Doch dies hier war Zaras Geschichte, Zaras Vergangenheit. Und diese echote mir in tausendfacher Lautstärke in meinen Ohren nach.
„So lag Zara inmitten der zerbrochenen Statuen und der Glasscherben. Dabei fand sie ihre gläserne Statue. Das Mädchen aus Glas. Die Ballerina, die ihre Mutter für die Ausstellung hergestellt hatte, hatte alles wie durch ein Wunder ohne jeglichen Schaden überstanden. Und so blieb Zara nur die Gesellschaft dieser Statue. Mehrere Stunden lang saß sie geschockt neben der Leiche ihrer Mutter, welche noch immer kopfüber im Sicherheitsgurt ihres Sitzes des überschlagenden Autos hing. Sie hielt ihre tote kalte Hand und schrie, dass sie ihre Augen bitte aufmachen solle. Dies ging so lange, bis eine Frau mit ihrem alten Auto diese Landstraße entlangfuhr und dieses grausame Szenario entdeckte. Zara musste für drei Nächte in ein Krankenhaus und anschließend durch das Jugendamt in eine Notpflegefamilie." Ein leichtes Lächeln erschien auf Delores Gesicht, so als würde sie sich an schönes etwas erinnern und als sie weitersprach, wusste ich, woran sie gedacht hatte: „Doch dort gefiel es ihr nicht, hatte trotz Therapie andauernde Albträume. Schließlich schaffte es die Frau, die sie gefunden hatte, das Sorgerecht von Zara zu bekommen. Zwei Monate nach dem Unfall zog sie schließlich in ihr neues Zuhause ein und blieb seitdem auch dort... hier... Die gläserne Statue kam mit. Ich weiß nicht, ob sie schon immer so war, Max..." Sie seufzte auf und schüttelte den Kopf, so als könnte sie selbst nicht fassen, dass sie gerade diese Geschichte erzählt hatte. „Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nicht, ob sie schon immer so beeindruckt von den tieferen Sinnen war oder ob es sich erst nach dem Unfall so entwickelt hatte... Ich hoffe, ich konnte deine innere Zerrissenheit etwas mildern, dir ein Bild davon verschaffen, warum Zara so gehandelt hatte. Aber sei dir im Klaren, dass Zara tausende Geheimnisse hatte. So viele, dass sie selbst ein wandelndes Geheimnis war."
Als sie geendet hatte, war ich vor Schock wie erstarrt.
Dies war also Zaras Fehler gewesen.
Ein warmer Morgen.
Eine unbedachte Tat.
Ein blutiges Ende.
Sie musste den Tod ihrer Eltern mit ansehen und sie wusste, dass es ihre Schuld gewesen war.
Ich hörte, wie Delores neben mir leise anfing zu weinen, aber ich konnte nichts dagegen machen, konnte kein Wort des Trostes sagen. Wie denn auch, wenn ich genau den gleichen Kummer verspürte?Ich starrte weiterhin die gläserne Statue an, als Delores wieder aufstand und wortlos ging.
Ich hatte immer gedacht, dass sie eine komische, alte Frau war. Aber in Wirklichkeit war sie nur bedacht in ihren Taten.
Sie war die Frau, die Zara gefunden hatte und sich genau dem gleichen Szenario stellen musste wie Zara. Diese Bilder würden auch ihre Gedanken niemals verlassen können.
Dies war also der tiefere Grund der gläsernen Statue.
Es war eine Erinnerung.
Eine Erinnerung an ihre Eltern und eine Erinnerung an die schrecklichen Folgen ihres Fehlers.
Genauso wie es eine Erinnerung an meinen Fehler war, der Zara das Leben gekostet hatte.
Ich schluckte, konnte aber nicht verhindern, dass mir erneut die Tränen kamen.
Ich strich einmal über die glatte und kühle Oberfläche der Statue und lächelte gequält als mein Blick auf Zaras Wandbild fiel, dass das Mädchen und die Ballerina zeigte.War es vielleicht sie?
Zara und die gläserne Statue?Dies würde wahrscheinlich für immer Zaras Geheimnis sein.
Denn Zara war noch immer ein Puzzle mit tausenden Teilen und ich würde nie in der Lage sein, alle zusammen zufügen.
Auch wenn ich jetzt einen Teil ihrer Vergangenheit wusste.
Mein Herz wurde durch die Gewissheit etwas leichter, aber durch den Schmerz, die Trauer und den Schuldgefühlen, welche Zara all die Jahre ausgeliefert war, noch um vieles schwerer.
Was hätte ich nicht dafür getan, dass Zara es mir erzählt hätte. Denn dann hätte ich versuchen können sie zu trösten.
Hätte sie davon überzeugen können, dass sie nicht schuld daran war.Aber was mir blieb war die gläserne Statue.Das Mädchen aus Glas, welches ich dennoch nicht richtig verstand.Mein Blick fiel auf das schwarze Loch. Dort waren früher einmal die Freiheit und die Fesseln zu gleich.Dieses Geheimnis hatte ich, so glaubte ich es zumindest, gelöst. Sie wollte nicht mehr von ihrer Vergangenheit gefesselt werden, aber auch die Freiheit von dieser war unerreichbar.So hatte sie einfach beides zerstört.
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Das Mädchen aus Glas
Jugendliteratur-- Diese Geschichte wird zum 26. November 2021 wieder kostenlos lesbar sein! -- "Das hier, Max, hat einen tieferen Sinn, der glasklar auf der Hand liegt." "Und der wäre?" "Die Freiheit." Als Max sie zum ersten Mal sieht, ist er sprachlos. Denn Zara...