Der tiefere Sinn des Malens

16.2K 1.5K 57
                                    

Der Sommer hielt Alabama fest im Griff.
Jeden Tag schien es heißer zu werden und trotz dreifacher Schicht Sonnencreme war ich nach mehreren Tagen am See vollkommen verbrannt.

Eines Morgens war es bereits vor dem Sonnenaufgang so heiß, dass ich das Gefühl hatte, in meinem eigenen Schweiß wegzuschwimmen. Selbst die Luft schien zu flimmern und die Dachziegel unter unseren nackten Beinen glühten regelrecht. Auch Zara stöhnte über die Hitze und als wir uns nach dem Frühstück mit Amy und Dean in der Eingangshalle trafen, beschlossen wir, den heutigen Tag nicht am See zu verbringen.

„Und was wollen wir sonst den ganzen Tag machen?", fragte Dean und schob seine Hände in die Hosentaschen. Genau die gleiche Frage hatte ich mir auch schon gestellt. Bisher waren wir jeden Tag am See und in der Grotte gewesen, den Ausflug zum Baumarkt einmal außen vor gelassen. Ich hatte keine Ahnung, was man sonst noch hier mitten im Nirgendwo unternehmen konnte, zudem konnte man sich keine Sekunde im Freien bewegen, ohne nicht wie ein brennender Marshmallow zu zerlaufen.

„Können wir uns von Delores sonst wieder das Auto auslei-", Amy verstummte mitten im Satz und schloss schnell den Mund, als auch sie zu bemerken schien, dass Zara nicht gerade die beste und vertrauenswürdigste Autofahrerin war. Auch ich war nicht gerade heiß darauf, erneut mein Leben zu riskieren, indem ich mich wieder in diese Sardinenbüchse eines Autos setzte.

Zum Glück ging Zara nicht auf Amy ein, sondern klatschte nur mit leuchtenden Augen in die Hände. „Ich weiß etwas Lustiges, kommt mit!", meinte Zara und drehte sich um. Mit wehenden Haaren lief sie die Treppe hoch und ließ uns keine Chance, etwas zu erwidern. Kurz sahen wir uns drei an und als Amy sich schulterzuckend in Bewegung setzte, folgten auch Dean und ich den beiden Mädchen kommentarlos.

Zara steuerte – wie sollte es auch anders sein – auf ihr Zimmer zu. Sie stieg in ihre zweite Etage und gerade als ich dachte, dass sie mit uns auf das Dach wollte, blieb sie vor der noch unbemalten Wand stehen.
Sie stemmte sich gegen ihre weiße Kommode und versuchte sie zu verschieben.

„Dean, Max? Könntet ihr mir bitte mal helfen?", pustete Zara zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ohne zu zögern kamen wir ihrer Bitte nach und schon nach wenigen Sekunden hatten wir sie so verschoben, dass die weiße Wand komplett frei vor uns lag.
Wir beobachteten Zara, wie sie sich auf den Boden fallen ließ und einen nach den anderen Farbeimer unter ihrem Bett hervor zog. Mit vier Pinseln in der Hand und einem Grinsen im Gesicht richtete sie sich wieder auf.

Ich ahnte Böses, als sie jedem von uns einen Pinsel in die Hand drückte und dabei fragte: „Wisst ihr eigentlich, was der tiefere Sinn des Malens ist?"

Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Amy den Mund öffnete, doch bevor sie überhaupt etwas erwidern konnte, beantwortete Zara bereits selbst ihre Frage: „Man lernt, dass Fehler nicht unbedingt Fehler sind und gerade das Unperfekte so perfekt ist." Sie wendete sich wieder der Wand zu und stemmte ihre Arme in die Seite. „Außerdem hat man eine künstlerische Freiheit, die keine Grenzen gesetzt sind."

Nach zwei, drei geschockten Schweigeminuten, fragte Amy langsam: „Also meinst du damit, dass wir nun diese weiße Wand anmalen?"
„Genau das meine ich, Amy." Zara nickte und tunkte ihren Pinsel in einen Farbeimer mit königsblauer Farbe. Diese mischte sie auf einer Farbpalette mit einem Schwarz.
Sie warf uns einen Blick zu und als sie sah, dass wir noch immer perplex die Pinsel in unserer Hand ansahen, schüttelte sie lachend den Kopf.

„Na kommt! Ihr könnt nichts falsch machen, das habe ich doch gerade gesagt."

Das sagte sich so einfach und seufzend hob ich den Pinsel auf meine Augenhöhe. Ich drehte ihn in meiner Hand hin und her und ließ dann meinen Blick weiter zu der unbemalten Wand wandern.
Ich war noch nie gut in Kunst gewesen und würde auch jetzt sicherlich nicht zum nächsten Picasso werden. Auch wenn Zara behauptete, dass Fehler in Ordnung wären, wusste ich nicht, ob sie wirklich noch von diesem tieferen Sinn überzeugt sein würde, wenn sie sehen würde, wie ich ihr Zimmer mit meinem nicht vorhandenem Maltalent in einen Schandfleck verwandelt hatte.
Zudem war ich noch nie sonderlich kreativ gewesen.
Ich hatte keine Idee, was ich überhaupt malen sollte.

Mein Blick wanderte wie von selbst zu der bemalten Wand, welche wie lebendig schien. Zara war unglaublich talentiert und meine Zeichnung würde diese Kunstwerke nur optisch zerstören, das lag auf der Hand.

Das Mädchen aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt