Als schließlich jeder nach einem Stein der Wünsche getaucht hatte, schwammen wir aus der Grotte. Denn es war immer noch Zaras Grotte, ihre Entdeckung, und ohne sie fehlte etwas. Ich wusste nicht, ob es das letzte Mal war, dass ich in der Grotte gewesen sein würde, aber das würde sich mit der Zeit entscheiden.
Wir schwammen ans Ufer und legten die Steine in ein mit einem schwarzen Tuch verdecktes und mit Salzwasser gefülltes Glas, welches Amy schon heute Morgen hier her gebracht hatte.
„Wir haben das Abendessen verpasst, aber Delores wird nicht sauer sein." Dean zuckte die Schultern und ich nickte. Irgendwie hatte ich trotzdem ein schlechtes Gewissen, dass wir das erste gemeinsame Abendbrot verpasst hatten.
„Wollen wir uns umziehen und uns dann um halb elf in der Eingangshallte treffen?", fragte ich nach einer Weile des Schweigens und die anderen nickten. Langsam, mit dem Glas in der Hand, machten wir uns auf den Rückweg. Vor genau einem Jahr, vor 365 Tagen hatte es geregnet und gewittert. Damals waren wir nach Hause gerannt und Dean hatte mich gefragt, ob ich einen heißen Kakao wollte, aber ich war zu Zara gegangen...
Während die anderen in ihre Zimmer verschwanden, hatte ich etwas ganz anderes im Sinn. Zwar hatten Amy, Dean und ich etwas gemeinsam geplant, aber dies wollte ich alleine machen. Denn es war eine Sache, die nur mich betraf.
Und Zara.
Ich schlich mich in die Küche und holte aus dem Geheimversteck, welches Zara mir gezeigt hatte, zwei Schokoladenkekse. Dann wechselte ich meine Badehose schnell gegen eine Hose und ein T-Shirt und machte mich dann mit den Keksen auf den Weg zu meinem Ziel.
Mein Ziel war die weiße Tür mit den vielen Zetteln.Zara ist wie alles und nichts.
Wie wahr es doch war...
Ich atmete einmal tief durch, kniff meine Augen zusammen und drückte dann die Türklinke herunter. Ein leichter Windzug strömte mir entgegen und ich wurde regelrecht erschlagen von all den bekannten Gerüchen. Es roch nach Zara, nach Sommer, nach dem Wald und nach stickiger Luft.
Blinzelnd öffnete ich meine Augen und blickte mich in ihrem Zimmer um. Es sah noch alles wie damals aus. Es schien, als hätte keiner das Zimmer seit letztem Jahr betreten. Mit zögerlichen Schritten ging ich in die Mitte ihres Zimmers und drehte mich einmal um mich selbst.
Die Zeichnungen langen immer noch auf ihrem Schreibtisch, das Katzen-T-Shirt lag daneben und als ich mit klopfenden Herzen die Treppe nach oben ging, sah ich das ungemachte Bett und die gläserne Statue. Mit einem Lächeln betrachtete ich sie.„Hallo, lange nicht gesehen, oder?"
Schließlich schweifte mein Blick zu den Wänden, die voller Zeichnungen und Malereien zum Leben erweckt wurden. Das schwarze Loch blieb mir immer noch ein Rätsel, aber als mein Blick auf mein zeichnerisches Ich fiel, lächelte ich traurig. Dann wandte ich mich dem Fenster zu, öffnete es und sprang auf das Dach. Es war ein komisches Gefühl zu wissen, dass ich hier niemals mehr mit Zara sitzen würde, aber trotzdem balancierte ich bis zu unserem Dachvorsprung.
Es dämmerte bereits und einige Zeit lang blieb ich stumm. Ich bewegte mich in keiner Weise und starrte nur auf den Himmel, welcher von einem Hellrosa, in ein Rot und schließlich Dunkelblau überging.Als ich die ersten Sterne aufblinken sah, räusperte ich mich und fing an zu sprechen: „Hallo, Zara." Es war eher ein Flüstern, das aus meinem Mund kam. Doch meine Worte waren auch nur an Zara gerichtet und ich wusste, dass sie sie verstehen würde, egal wo sie nun war. „Es ist nun genau ein Jahr her. Weißt du noch? Genau vor 356 Tagen saßen wir auch hier auf unserem Dachvorsprung. Und morgen wirst du schon ein ganzes Jahr nicht mehr bei uns sein. Eine lange Zeit oder? Zumindest für mich, besonders weil ich dir doch nie das sagen konnte, was ich dir sagen wollte..." Meine Stimme brach und Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln. Wütend blinzelte ich sie weg, räusperte mich und sprach leise weiter, starrte weiterhin in den sternenverhangenen Himmel: „Deswegen möchte ich es jetzt nachholen, Zara. Denn der Satz, welchen ich dir schon seit über einem Jahr sagen möchte, besteht nur aus drei Wörtern. Drei Wörter, welche einzeln unbedeutend, aber zusammen etwas Magisches sind. Sie können Welten erbauen und zerstören lassen wie ein Tsunami. Die drei Wörter, welche mir seit einem Jahr bedeutungsschwer auf meiner Zunge liegen, sind keine anderen als ‚Ich liebe dich'. Und ja, verdammt! Zara Thale Wilkson, ich liebe dich mehr, als ich es für möglich gehalten habe..."
Erneut brach meine Stimme und diesmal konnte ich die Tränen nicht zurückhalten. Ich ließ sie laufen und beobachtete dabei weiterhin die Sterne. Unter diesen Sternen hatte ich Zara das erste Mal geküsst. Zitternd atmete ich einmal tief ein, bevor ich mich aufsetzte und die Kekse in meine rechte Hand nahm. „Weißt du noch, als du mir den tieferen Sinn dieser Schokoladenkekse erklärt hast? Ich hatte es aus Spaß gefragt, aber nun macht es so viel Sinn." Trotz der Tränen konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Wie sehr ich mir wünschte, dass Zara nun hier wäre. „Diese Kekse sind nur für dich, Zara. Egal wo du bist, ob im Norden oder Osten..."
Ich zerkrümelte die Kekse in meiner Hand und öffnete die Handflächen. Vom Wind wurden sie sanft davongetragen. Einen Moment konnte ich sie noch sehen, dann verschwanden sie in der Tiefe der Nacht.
Zara hatte wieder einmal Recht gehabt. Sie hatte gemeint, dass die Nacht magischer war als der Tag. Und es war wirklich so. So wie Zara es schon erzählt hatte, konnte die Nacht einerseits alle Geräusche viel lauter erscheinen lassen, sie im nächsten Moment aber wie Nebel verschlucken lassen. Und nun verschluckte sie die Kekskrümel und meine Worte.
Ohne ein weiteres Mal zurückzublicken, balancierte ich zurück zu Zaras Fenster.
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Das Mädchen aus Glas
Teen Fiction-- Diese Geschichte wird zum 26. November 2021 wieder kostenlos lesbar sein! -- "Das hier, Max, hat einen tieferen Sinn, der glasklar auf der Hand liegt." "Und der wäre?" "Die Freiheit." Als Max sie zum ersten Mal sieht, ist er sprachlos. Denn Zara...