Kein Wort über die Vergangenheit

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Nach einiger Zeit ging ich zu den anderen hin und half einer völlig vom Lachen erschöpfte Amy vom Boden hoch. Als alle standen, sahen wir uns unsere bemalte Wand an. Und nun wusste ich, was Zara damit gemeint hatte, dass gerade das Unperfekte so perfekt war.

Amy hatte einen Wald mit tausenden aufgescheuchten Vögeln, welche in den Himmel flogen, gemalt. Jedoch waren die Schatten der Tiere und der Bäume zu kurz und eckig um natürlich aussehen zu können. Doch erst dadurch sah es wunderschön und magisch aus.

Mein Blick wanderte weiter zu Deans Kunstwerk und automatisch stockte mir der Atem. Man konnte es nicht anders sagen; Dean war begabt, denn vor uns offenbarte sich die Grotte in tausend verschiedenen Grauabstufungen. Die Steine der Wünsche strahlten uns in einem magischen weiß von dem Grund des azurblauen Wassers entgegen. Es sah atemberaubend aus.

Doch als ich mich dann zu Zaras neu verzierten Wandabschnitt umdrehte, schnappte ich nach Luft. Mein Herz versagte mir und ich wusste nicht, was ich empfinden sollte, geschweige denn, wie ich ihre Malerei einordnen sollte.

Es war ein tiefschwarzer Himmel, verziert mit tausenden Sternen. Alle in einem anderen Goldton und sie schienen zu pulsieren, wenn man sie lange genug ansah. Weiter konnte man eine dunkelgrüne Wiese auf der ein Mädchen mit einer Kapuze über dem Kopf im nassen Gras saß, erkennen. Das gemalte Gras war nass, das konnte man genau an den silbrigen Punkten an den Grashalmen erkennen. Beinahe sah es so aus, als würde der Tau von den Grashalmen herunterlaufen.
Vor dem kleinen Mädchen stand eine Frau.

Es war eine wunderschöne Frau, mit zierlichen Armen, die eine Hand nach dem Kind ausgestreckt hielt, während die andere in den Himmel zeigte. Die Haut schimmerte in einem unnatürlichen Weiß und der Oberkörper war zu einer leichten Verbeugung geneigt. Ein Bein war wie das einer Ballerina angewinkelt.
Wie eine Ballerina.
Die Statue aus Glas.

Mein Blick huschte zu der Statue, sie glitzerte in der Sonne und irgendwie bereitete sie mir ein mulmiges Gefühl. War es Zufall, dass Zara eine Ballerina gemalt hatte? Oder hatte es etwas Tieferes zu bedeuten? Einen tieferen Sinn. Verband die Zeichnung etwas mit der Statue?

Zara bemerkte meinen Blick. „Nun habt ihr es verstanden. Grenzen existieren nur in unseren Gedanken. Sie sind heimtückisch, denn sie lassen uns glauben, dass sie der Realität entsprechen, dass sie gebaut wurden, um uns davon abzuhalten, unsere Ziele zu erreichen. Doch dies ist nicht wahr, vergisst das nie." Sie lächelte leicht. „Das ist unsere Wand. Wann immer wir zu viert hier wieder stehen werden, werden wir uns an diesen Tag erinnern. Schaut, dort haben wir noch ein Stücken weiße Wand frei. Wollen wir uns dort nicht hinmalen? Uns vier, wie wir zusammen stehen, damit jeder sieht, dass wir Freunde sind?"

Wir waren alle ihrer Meinung und deswegen machten wir uns lachend an die Arbeit.
Wir bemerkten erst, dass wir das Mittagessen verpasst hatten, als Delores im Morgenmantel in Zaras Zimmer geschlürft kam und meinte, dass das Abendessen gleich serviert werden würde. Prompt bekam ich ein schlechtes Gewissen, da wir immerhin ihre Gäste waren und sie des Öfteren bereits versetzt hatten.
Dieser Meinung waren die anderen wohl auch, denn wir gingen ohne uns frisch zu machen in den Speisesaal. Delores schien sich jedoch nicht an unserer mit Farbkleksen übersäter Haut zu stören, sondern verwickelte uns alle in eine unterhaltsame Unterhaltung.
Als jeder bereits zwei Brote gegessen hatte, hob Delores eine Hand und sah mit einem strahlenden Lächeln in unsere Runde. „Meine lieben Kinder, wie froh ich doch bin, dass ihr mich und Zara, meinen Schatz, besuchen kommt. Wir freuen uns sehr."

Sie zupfte an den losen Fäden ihres roten Morgenmantels und fing an fröhlich ein Lied zu summen. Mein Blick jedoch huschte verwirrt zu Zara, die jedoch ihren Kopf gesenkt hielt und nur die Rinde ihres abgeknabberten Brotes auf dem Teller hin und her schob.
Was meinte Delores damit, dass wir sie und Zara hier besuchen würden?
Wohnte Zara etwa hier?
Bisher war ich davon ausgegangen, dass sie wie wir anderen auch nur die Sommermonate hier verbrachte. Doch je länger ich darüber nachdachte, desto mehr wurde mir bewusst, dass wir niemals explizit darüber gesprochen hatten.
Mir fiel wieder ihre knappe Antwort Ja und noch länger auf meine Frage, ob sie jeden Sommer hier war, ein. Und natürlich sprach auch ihr Zimmer, das mit so vielen persönlichen Sachen ausgestattet war, dafür, dass sie nicht nur für eine kurze Zeit hier war.

Es war wie ein kleines Puzzle, welches sich zusammenfügte. Zwar gab es noch tausende von anderen Puzzleteilen, aber nun konnte ich erkennen, was auf diesem einen Teil abgebildet war.

Es warf jedoch auch nun viel mehr Fragen auf:
Warum wohnte sie hier, seitdem sie neun Jahre alt war?
Wo waren ihre Eltern?
Warum verschwieg sie es?
Ich sah sie während des gesamten Abendbrotes an. Doch kein einziges Mal hob sie ihren Blick von ihrem Teller. Ich bekam das Gefühl nicht los, dass sie meinem Blick auswich, weil sie ganz genau wusste, was ich sie fragen würde.


„Zara!", rief ich ihr hinterher, als sie nach dem Abendessen sofort in ihr Zimmer stürmte. Ohne auf die anderen zu achten, versuchte ich sie einzuholen und schaffte es erstaunlicherweise, sie gerade so noch an ihrer Zimmertür zu erwischen.
Ich griff nach ihrem Arm und drehte sie zu mir um.

„Zara, was ist los mit dir?", fragte ich außer Atem und mein Blick wanderte über ihre Gesichtszüge. Sie schüttelte jedoch den Kopf und für eine Millisekunde bröckelte ihre Fassade.
Unbändige Trauer schlug mir entgegen und vollkommen von diesem Anblick geschockt, ließ ich sie los. Keine Sekunde später verschloss sich ihre Miene wieder, doch bevor ich den Mund zum Sprechen öffnen konnte, war sie in ihr Zimmer geflitzt und hatte die Tür vor meiner Tür zugeschlagen.

Ohne zu zögern legte ich meine Hand auf den Türgriff, doch im nächsten Moment spürte ich eine Berührung auf meiner Schulter.
Ich zuckte zusammen, doch es war nur Amy, die hinter mir stand.
„Lass sie. In solchen Situationen lässt man sie am besten alleine", meinte sie mit leiser Stimme, aber bestimmenden Unterton.
Sie lotste mich etwas von Zaras zettelübersäter Tür weg und langsam fing ich an zu nicken.
Vielleicht hatte Amy Recht und Zara brauchte Zeit.
Wieder einmal.

Aber dennoch fühlte es sich so verdammt falsch an, Zara in diesem Moment alleine zu lassen.
Ich drehte meinen Kopf, um einen Blick über meine Schulter zurück zu Zaras Zimmertür werfen zu können.

Genau in diesem Moment löste sich einer der vielen Post-it-Zettel von dem Holz und segelte in langsamen Bahnen zu Boden.
Sofort schnürte sich mein Hals zu und ich schüttelte Amys Hand ab.

„Ich gehe schlafen", schob ich als Entschuldigung vor und lief mit schnellen Schritten von ihr weg. Ich wagte es nicht, mich zu ihr umzudrehen, denn ich war mir sicher, dass sie mir hinter hersah.

In meinem Zimmer angekommen, verschloss ich schnell die Tür und ließ mich aufseufzend an ihr hinabgleiten.
Mit meinen Händen fuhr ich mir durch meine Haare und schüttelte immer wieder den Kopf.

Wieso verhielt sich Zara so unterschiedlich?
So, als hätte sie wie eine Medaille zwei Seiten.

Im einen Moment lachte man noch mit ihr und im nächsten war sie wie ein verängstigtes Reh im Scheinwerferlicht.
Sie wollte nicht, dass wir etwas über sie erfuhren.
Ihre Vergangenheit sollte nur ihr selbst gehören und sie würde ihre Geheimnisse hüten wie einen Schatz. Das hatte sie selbst zugegeben.
Doch was war in ihrem Leben bereits passiert, dass sie nicht wollte, dass man noch mehr darüber erfuhr?

Es fühlte sich wie Stunden an, bis ich es schaffte, mich langsam wieder zusammenzuraffen und aufzustehen.

Mit Kopfschmerzen stellte ich mich unter die Dusche, schrubbte die Farbe ab und hoffte inständig, dass Zara morgen wieder ganz die Alte war.





Das Mädchen aus GlasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt