In meiner Art Rausch bemerke ich nichts um mich herum. Nicht das knarrende Laminat im Flur oder die Treppenstufe, die besonders laut ist, noch Jeongin, der aus seinem Zimmer rennt und mir zusieht, wie ich die Treppe herunterrenne. Fast wäre ich in Socken und ohne Jacke hinaus auf die Straßen von Seoul gerannt, doch ich werde am Arm festgehalten. Mein Kopf schnellt herum, meine ganze Körperhaltung auf Verteidigung. Doch es ist nur Seungmin, der mich besorgt ansieht.
"Komm", sagt er nur. In seinen Augen liegt ein Ausdruck von Trauer, doch auch von Wissen. Als hätte er die ganze Zeit gewusst, dass es so kommen wird, als wäre er der Hellseher in einem schlechten Hollywood-Horrorfilm, der bedauerlicherweise genau weiß, wann wer stirbt.
Und obwohl ich gerade einfach nur allein auf einem Berg stehen und meinen Frust in ein Tal schreien will, leiste ich keinen Widerstand. Ich sehe zu, wie Seungmin in seine Schuhe schlüpft und mir meine Vans zuschiebt. Auch ich ziehe mich an, während er sich in Mantel und Schal quält. Dann verlassen wir gemeinsam die Wohnung der Jungs und gehen raus auf die Straßen.
"Ich weiß, was dich jetzt beruhigt", sagt der Junge neben mir und schlendert mit mir die Straße entlang, die Hände in den Taschen vergraben. "Ein heißer Kakao bei Starbucks." Der Rothaarige dreht den Kopf zu mir und lächelt mich mit all seiner positiven Energie an.
"Schon gut...", sage ich, in meiner Stimme liegt noch immer ein leichtes Krächzen. "Ich komme schon klar, Seungmin, du musst nicht unnötig Geld für mich ausgeben."
Er bleibt stehen und sieht mich ernst an. "Haruka, wir wissen alle, wie Felix manchmal sein kann. Zwar ist er selten so wie eben gerade, aber... wir kennen diesen Jungen in- und auswendig. Und ich weiß genau, wie schwer eine Diskussion mit ihm mental sein kann. Wir gehen jetzt Kakao trinken und dabei erkläre ich dir meine These. Okay?" Wieder schleicht sich ein mattes Lächeln auf seine Lippen.
Ich lenke ein. "Okay."
Eine Weile laufen wir schweigend nebeneinander her, jeder sieht sich die umherschwirrenden Menschen, Werbetafeln und Geschäfte an. Seungmins Schal ähnelt eher einem Teppich, so riesig, wie er ist, doch wenigstens werden wir dadurch nur selten von irgendwelchen Mädchen aus der Ferne angekreischt.
Bei Starbucks angekommen, hält Seungmin mir die Tür auf, ich bedanke mich mit einem Lächeln und wir treten ein. Eine angenehme Wärme umgibt uns, zusammen mit dem Geruch von Reinigungsmitteln und Kaffee.
"Setz dich schonmal", ordnet der Rothaarige an. "Und such einen Tisch in der Menge."
Ich folge seinen Anweisungen und suche einen Tisch zwischen einem knutschenden Pärchen und einem Ehepaar, welches völlig vertieft ins eigene Smartphone ist, aus. Wenig später setzt meine Begleitung sich zu mir und stellt mir meinen heißen Kakao hin, der wirklich herrlich duftet und die Welt schon einmal etwas besser aussehen lässt.
"Also..." Seungmin nippt an seinem Gebräu (was auch immer er sich bestellt hat) und sieht nachdenklich auf die Tischplatte. "Was ist passiert?"
Eine Sekunde lang herrscht Stille, aber es kann wirklich nur maximal eine Sekunde gewesen sein.
"Ja also da war dieser Barkeeper in Songpa und ich kannte den nicht und ich habe nach dem Weg gefragt und da war so ein Betrunkener und der Junge hat mir geholfen und hat mir gesagt wo-"
"Stop." Seungmin lacht leise und fährt sich durch die dichten, gefärbten Haare. "Und jetzt nochmal langsam."
Ich seufze, nehme einen großen Schluck von meinem Kakao (der wirklich großartig schmeckt!) und ordne meine Gedanken. Dann erzähle ich Seungmin ganz ruhig und geordnet alles. Von seinen Anspielungen bis zu dem Barkeeper und über die seltsamen Gefühle, die ich glaube, für Felix zu empfinden. Während ich dem ganzen Kram Luft mache, trinke ich hin und wieder große Schlucke von meinem Kakao, als wäre er so etwas wie meine Motivation und Stärkung dafür, weiterzumachen, weiterzuerzählen. Und als ich endlich mit reden fertig bin, hat Seungmin mir bereits zweimal Nachschlag holen müssen.
"Okay", sagt er auf einmal. Ich hatte bereits vor einigen Minuten aufgehört, zu reden und nippe nur noch an meinem Kakao.
"Okay...?", harke ich ganz leise und ein wenig ungläubig dieser knappen Antwort gegenüber nach.
"Haruka, du bist wirklich ein sehr besonderes Mädchen", sagt er dann und hebt den Blick von der Tischplatte auf meine Augen. "Sehr empathisch und wirklich intelligent."
"D-Danke", sage ich unsicher und zwinge mir ein leichtes Lächeln auf die Lippen. Ich will noch mehr sagen, doch der Rothaarige kommt mir zuvor.
"Ich kann dir eins ganz sicher sagen. Felix hat definitiv sehr starke Gefühle für dich."
Dieser Satz kam so aalglatt von seinen Lippen, als hätte er gerade etwas ganz alltägliches erläutert. Wie zum Beispiel, dass keine Gurken mehr im Haushalt vorhanden sind und Neue benötigt werden. Oder, dass er mit der Akkuleistung seines Handys nicht zufrieden ist.
"E-Eh..." Seine Worte haben mich vollkommen aus der Bahn geworfen. "Woher willst du das wissen?"
"Ich entschuldige sein Verhalten dir gegenüber vorhin keinesfalls, Haruka, ich will, dass du das schonmal weißt. Er hatte Glück, dass Chan nicht da war, sonst wäre er reif gewesen." Seungmin sieht mich ernst an. Dass Chan ihn zur Sau gemacht hätte, glaube ich ihm aufs Wort. Dieser Junge hat seit meiner Ankunft so viel für mich getan.
"Aber ich vermute einfach, dass er unbeholfen ist und keine Ahnung hat, wie er mit einem solchen Mädchen umgehen soll. Du weißt sicherlich, dass Leute in der K-Pop Szene nicht allzu gerne in Beziehungen gesehen werden, generell in Verbindung mit allem, was mit Liebe zutun hat."
Ich nicke.
"Also... Felix ist nicht wirklich erfahren. In Australien hat er sich immer auf seine Freunde und seine spätere Karriere fokussiert, zu mir hat er mal gesagt, er hätte überhaupt keine Zeit gehabt, einer Freundin gerecht zu werden. Und hier werden wir sorgfältig davon ferngehalten."
Wieder nicke ich.
"Nun ist Felix aber eigentlich eine sehr dominante und manchmal notgeile Person, wie du auch schon ein paar mal bemerkt haben solltest. Das alles wird extremer, weil er versucht, seine Unsicherheit zu überspielen, glaube ich."
Ein nachdenkliches Nicken.
"Er war der Meinung, dass er es langsam schafft, dich von sich zu überzeugen. Du schläfst ja in seinem Bett, sprichst mit ihm über seine Vergangenheit und seine Heimat... Bist ihm räumlich und geistlich so nah... Und dann findet er die Nummer eines anderen Kerls in deiner Hosentasche. Die Hose, die du an dem Abend getragen hast, als er dich verletzt hat."
"So habe ich das noch nie gesehen..."
"Felix nimmt es sich zu Herzen, wenn er jemanden verletzt hat. Das passiert eigentlich immer ungewollt. Aber er entschuldigt sich dann immer gleich tausend mal und wenn er nur versehentlich einem von uns auf den Fuß getreten ist. Und an diesem Abend hat er jemanden verletzt, der ihm viel bedeutet. Das weiß ich genau, weil er nur noch von dir spricht, wenn wir unterwegs und weg von Kameras sind, Haruka." Wieder dieses warme Lächeln, bevor er fortsetzt.
"Der Gedanke, sein Mädchen, sein kleiner Stern, wie er dich letztens betitelte, könnte in einer vagen Kneipe die Nummer eines Fremden angeboten und ANGENOMMEN haben... Ich glaube das hat ihn aus dem Konzept gebracht, verstehst du so ungefähr, was ich meine?"
Wieder nicke ich. Gerade schwirren mir tausende von Gedanken durch den Kopf, doch will ich keinen einzigen Gedanken äußern. Ich weiß ja nicht mal, wie es jetzt weitergehen soll, geschweige denn, wie ich gleich ins Dorm zurückkehren soll.
"Haruka, wir werden gleich wieder zurückgehen." Seungmin legt seine Hand um meine, die auf dem Tisch lag. "Und ich bin mir sicher, er wird mit dir reden wollen. Mein Tipp ist... Hör ihn an und dann, wenn er fertig mit reden und entschuldigen ist..." Wieder lächelt er kurz. "Dann hör darauf, was dein Herz dir sagt."
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Dance With Me » Stray Kids
FanfictionHaruka ist ein ganz normales Mädchen. Jedenfalls bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr. Ihre Eltern lassen sich scheiden und Zuhause fliegen ordentlich die Fetzen. Sie wird zu ihrem Onkel geschickt, zu einem Mann, den sie noch nie in ihrem Leben geseh...