Kapitel 23

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Die Türen im ersten Geschoss stehen allesamt weit offen, die Zimmer sehen auf den ersten schnellen Blick unordentlich aus, was mir ein Lächeln aufs Gesicht zaubert. Mein Zimmer zuhause sieht auch nicht gerade besser aus.

Nur die letzte Tür auf dem Flur, die zu Felix' Zimmer, ist geschlossen. Das Lächeln auf meinen Lippen verblasst sofort wieder und macht Besorgnis Platz. Von unten höre ich die Jungs ausgelassen zusammen Lachen und Witze über Woojins Schinkendreiecke machen. Zögerlich klopfe ich an der Holztür, doch bekomme ich keine Antwort.

Und jetzt? Soll ich einfach wieder gehen? Nein! Ich lasse diesen niedlichen, manchmal griesgrämigen und horny Boy jetzt nicht allein.

Ich öffne die Tür einen Spalt weit und stecke meinen Kopf hindurch. Die weißen Vorhänge sind nicht wie immer zugezogen. Der Blonde sitzt vor dem Fenster, dass so groß wie die Wand ist und starrt auf die Hauptstadt herunter, auf die vielen verschiedenen Menschen und Lichter, so wie ich es ebenfalls vor knapp einer Stunde tat.

"Geh weg, Jeongin, ich will keinen sehen", murrt er. Seine tiefe Stimme, die sonst immer so warm oder auch manchmal kalt klingt, wirkt nun auf einmal so gebrechlich und klein, wie eine gläserne Rose. So wunderschön und doch so empfindlich.

"Ich bin es", sage ich leise.

Sein Kopf hebt sich, doch dreht er sich nicht zu mir um. "Haruka?" In seiner Stimme liegt Überraschung und ich kann nicht deuten, ob meine Anwesenheit positiv oder negativ auf ihn wirkt.

"Kann ich reinkommen?"

Einen Moment herrscht Stille. "Komm rein."

Ich trete langsam ein, meine Schritte auf dem Laminat scheinen doppelt so laut zu sein als sonst, als ich mich ihm nähere. Auf dem Bett liegen überall Postkarten und Briefe verteilt, Bilder, zerknitterte, alte, aber auch Taschentücher liegen darauf herum.

Ich blicke den Blonden zu meiner linken an und lasse mich neben ihn sinken. Er kaut auf seinen pinken Lippen herum und spielt mit dem silbernen Ring, auf den ich ihn bereits ansprach, als wir meine Tasche hochgetragen haben. Er sieht mich nicht an, sein Blick ist starr auf das Treiben auf den Straßen gerichtet. Obwohl diese ganzen bunten, faszinierenden Farben sich in seinen Augen widerspiegeln, ist sein Blick leer und verloren. Als hätte man ihm seine Seele aus dem Körper gerissen und den leeren Wirt zurückgelassen.

Auch meine Augen heften sich auf die eilig umherlaufenden Menschen unter uns und eine Weile beobachtet jeder nur das Verhalten der verschiedenen kleinen Wesen da unten.

"Sydney ist schön", sage ich dann irgendwann leise, ohne den Blick abzuwenden. 

Felix' tiefe Stimme lässt mir, wie so oft, eine Gänsehaut über den Rücken schleichen. "Du warst schonmal in Sydney?" 

"Mit meinen Eltern vor einem Jahr, ja. Einer der verzweifelten Versuche meines Vaters, die Ehe mit meiner Mom zu retten und seiner Tochter in den schweren Zeiten ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern." 

Felix hebt den Blick und mustert mich kurz, bevor er wieder auf die Stadt sieht.

"Was habt ihr alles da gemacht?"

"Naja, mein Vater wollte am Liebsten wild drauf los, in der Innenstadt auf Koalas stoßen." Wir beiden lachen. "Aber meine Mutter war eher dafür, mit einem Plan an diese atemberaubende Stadt ranzugehen. Also hat sie im Internet nach Aktivitäten geguckt, die man spontan buchen könnte. Am nächsten Tag haben wir uns dann die Blue Mountains angesehen." 

"Es ist wunderschön dort, oder?" Ein melancholisches Lächeln liegt auf Felix' Gesicht und ich stimme mit einem langem Nicken zu.

"Es war unbeschreiblich schön. Am Abend haben wir dann die Imbissbuden abgeklappert, mein Vater hat so unglaublich viel in sich hineingestopft, wir haben jeden Moment damit gerechnet, dass er platzt."

Felix lacht. "Das haben meine Freunde und ich früher auch immer gemacht. Wenn wir so erschöpft von dem Druck in der Schule waren, haben wir uns nachts oft rausgeschlichen und haben alle möglichen Gerichte an Imbissbuden ausprobiert. Wir wollten das Nationalgericht jedes Landes mindestens einmal probiert haben." Er steht auf und geht zum Bett, seine Schritte so schleichend, dass er ein Geist hätte sein können. Blass genug ist er ja.

"Hier." Er setzt sich wieder neben mich und drückt mir einen Stapel Fotos in die Hand, der durch ein blaues Gummiband zusammengehalten wird. Ich nehme es vorsichtig ab und sehe mir das erste Bild an, worauf man ihn mit zwei anderen Jungs vor einem Stehtisch sieht, im Hintergrund ein orangener Imbisswagen. Alle drei Jungs lachen fröhlich in die Kamera, Felix' Augen haben schon damals so gefunkelt beim Lachen. Die anderen beiden Jungs sehen aus wie die Klischee Australier. Einer blond, der andere braunhaarig. Sie sind gut gebaut und halten beide eine braune Glasflasche in der Hand, dessen Etikett nicht erschließen lässt, um welche Sorte Getränk es sich handeln mag.

"Da haben wir indisch gegessen und getrunken." Er schmunzelt und beugt sich leicht zu mir hinüber, ihn umgibt ein sehr (SEHR) anziehendes Parfum. "Zac", er deutet auf den Braunhaarigen, "hing danach eine halbe Stunde lang über einer öffentlichen Toilette, weil sein Magen kein indisches Essen verträgt. Aber ehrlich gesagt glaube ich, dass er vor allem wegen der Hygiene auf diesem Klo darein gereihert hat." Felix lacht, doch dieses Lachen macht schnell einem traurigen Lächeln Platz und noch schneller herunterhängenden Mundwinkeln. Ich überlege fieberhaft, was ich sagen könnte, damit aus den herunterhängenden Mundwinkeln nicht ganz schnell Tränen werden.

"Ich vermisse Deutschland kaum", sage ich und blicke ihn an. Verdutzt erwidert der Blonde meinen Blick. "Aber deine Familie ist da..."

"Schon..." Nun bin ich es, die wieder auf die Straßen herabsieht. "Aber meine Eltern lassen sich gerade scheiden. Klar, ich will dabei sein und wie jedes Kind habe ich die Hoffnung, die Scheidung irgendwie, durch den Schmollblick oder so, aufhalten zu können. Aber objektiv betrachtet kann ich doch auch eigentlich gleich ganz hierherziehen. Meine Eltern schlagen sich zuhause sowieso gerade mit irgendwelchen zerbrechlichen Gegenständen die Köpfe ein und wenn ich nach Hause komme, werden beide ihre individuell entwickelnden Psychomaschen abziehen, um mich dazu zu bringen, bei einem von ihnen zu wohnen. Das sind nicht meine Eltern. Das sind Raubtiere, getrieben von der Begierde nach etwas, das der Andere nicht hat. Und sobald sie es haben, denn so ist es bei allen Menschen auf diesem Planeten, verlieren sie den Reiz und lassen es fallen. Und ich werde zu einer Nebenwirkung, mit der Pubertät, eventuellen schlechten Noten, gescheiterten Romanzen, wegen denen ich tagelang in meinem Zimmer sitze und heule, oder Rechnungen wegen Shoppingtouren, Restaurantbesuchen oder Kinoaufenthalten, weil ich dann versuchen werde, mich mit aller Macht von Zuhause loszureißen, um den sich anbahnenden, unvermeidlichen Hass meiner Person gegenüber, in den Hintergrund zu schieben."

Stille. Meine Wangen werden knallrot. Gerade habe ich das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, so ungefähr viel zu viel geredet zu haben. Und damit meine ich wirklich VIEL ZU VIEL.

Der Blonde wendet seinen Kopf wieder mir zu, doch liegt auf seinen Lippen ein eindeutiges Grinsen.

"Kleines, so ernst das Thema auch sein mag und so sehr ich deinen Pessimismus auch verstehe..." Er macht eine Pause, um mit seiner rauen Stimme so unglaublich heiß zu lachen, wie nur Lee Felix es könnte. "...Du bist niedlich, wenn du dich aufregst."

Dance With Me » Stray KidsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt