Ich konnte mich an die letzten Stunden kaum noch erinnern, es war als hätte jemand, wahrscheinlich mein Unterbewusstsein, einen Filter der Trübheit, einen Nebel, über alles gelegt, sodass alles wie in Zeitlupe und gleichzeitig viel zu schnell an mir vorbei gerauscht war.
Neben mir hörte ich eine hysterische Nora laut schluchzen und sah einen überforderten Richard, der nicht wusste, wie er mit der ganzen Situation umzugehen hat. An seiner Stelle hätte ich auch nicht gewusst, wie ich mit der ganzen Situation umgegangen wäre.
Die Tochter gerade im OP, die Frau total aufgelöst und wie eine labile Irre schluchzend.
Er stand einfach nur da, sein sonst so sorgfältig gebügelte weißes Hemd an den Ärmeln zerknittert und faltig, die Hände verkrampft zu Fäusten zusammengepresst.
Und ich, ich fühlte mich so, als hätte jemand mein Leben genommen und es in kleine Teile zerrissen. Zerstückelt, zersägt, zerkaut, pulverisiert.
Es führte alles zum selben Ergebnis: Die Probleme und Geheimnisse, die die Leys solange verweigert hatten zu sehen, waren plötzlich mit voller Wucht in das Leben der Familie gekracht und hatten nichts außer einen großen Haufen an Scherben zurückgelassen. Vielleicht war die Familie ja vorher schon so gewesen, zerbrechlich, viel zu zerbrechlich, wie ein Glas, das nach außen hin kostbar und solid wirkte, und doch plötzlich durch nur einen einzigen Schlag unwiederrufbar zerbrach.
„Ich kann nicht noch jemanden verlieren, nicht noch jemanden!", Noras Stimme hallte viel zu laut durch den weißen Korridor.
Alles war zu laut, zu viel, ich wusste einfach nicht, wie ich mit allem umgehen sollte. Damit, dass ich vielleicht an Leonas...Tod war.
Und dabei hatte ich gedacht, ich hätte niemandem außer Jordan nah genug an mich herangelassen, um mich wieder derart zu verletzen.
Und doch hatte sich Leona irgendwie in mein Herz geschlichen, auch wenn ich mit allen Mitteln versucht hatte es zu verhindern.
Und nun stand ich hier, mit der Gewissheit, dass ich es hätte verhindern können. Wäre ich nur bloß nicht so egoistisch gewesen, hätte ich den Mut gehabt, wirklich hinzusehen und zu begreifen, in welche schrecklichem Zustand sich Leona schon viel zu lange befunden hatte. Hätte ich nur bloß das Interesse gehabt und Nora etwas gesagt, ein Satz hätte gereicht, doch ich hatte es einfach ignoriert, verdrängt, beiseite geschoben.
Ein kräftiger Stoß und ein gefolgtes Taumeln meinerseits riss mich aus meinen tranceartigen Gedanken. „Was habt ihr meiner Leona angetan!"- Hätte das bloß ihr Footballspieler gesagt.
Und trotzdem, ich hatte noch nie so viel Wut, Schmerz und Trauer in einer Stimme gehört.
Hatte ich eben noch gedacht, Leonas...Leonas...beinahe Tod hatte meine Welt zum wanken und zum einstürzten gebracht, wurde mir jetzt erst klar, wie viel er tatsächlich angerichtet hatte.
Mrs. Sterling, die wohl alle Hemmungen hinter sich gelassen hatte, stürmte wutentbrannt auf ihre Tochter zu, um diese feste an ihren Schulter zu packen und wie vom Teufel besessen immer wieder zu schütteln, sodass Noras Kopf sich mehrfach gefährlich der Wand näherte. Während all dem wurde ihr Körper immer wieder von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt, die beinah schon die Ausmaße eines Tsunamis höchster Stufe angenommen hatten.
Hinter ihr kam Paul angerannt, es hätte mich nicht gewundert, wenn er einen Pfarrer und einen Rosenkranz im Schlepptau gehabt hätte, musste er doch fast schon denken, dass seine Frau vom Teufel besessen war. Zumindest hätte ich das an seiner Stelle getan, wenn schon einfache Kreuzzeichen nicht weiter halfen. Vor allem da Mrs. Sterling sich in keinster Weise zu beruhigen schien, aus ihrem Mund bahnte sich ein Schwall übelster Schimpfwörter und Beleidigungen, die ich ihr vor dem Vorfall in der Kirche nicht einmal zugetraut hätte.
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Ein Labyrinth aus Schweigen
Romance(ehemals 'The Labyrinth of Love' ) Menschen zu verlieren, damit hat die 17 jährige Ally mehr als nur Erfahrung. Während sie von einer Familie zur nächsten gereicht wurde, hat sie das Vertrauen in Menschen und die Hoffnung auf Glück verloren und vers...