•Kapitel 4•

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Sobald ich das Zettelchen gelesen hatte, wurde mir so einiges klar. Das hatte er gestern also mir den Worten "Wenn du dich nicht entscheiden kannst, wirf die Münze" gemeint.
Ich hatte seine Worte schon fast vergessen und wäre niemals auf die Idee in meiner Tasche -
in meiner nun von Namur zerkauten Tasche- zu suchen.
Ich war mir nicht sicher, ob ich froh sein soll den Zettel gefunden zu haben oder ob ich besser dran gewesen wäre, wenn ich ihn nicht entdeckt hätte.
Denn jetzt musste ich mich mit der Frage auseinander setzen, ob ich hingehen wollte. Eigentlich wollte ich es, aber etwas hielt mich zurück. Vielleicht war es Instinkt, aber ich tippte eher auf Erfahrung. Davon hatte ich durch vier verschiedene Familien und ein paar Jahre im Waisenhaus genug gesammelt.
Und ich war auf eine gewisse Art und Weise auch dankbar dafür. Ich hatte gelernt, dass nichts für immer blieb und ich spätestens wenn etwas ungeplantes passieren würde oder ein besserer Ersatz gefunden worden war, weiter gehen musste.
So war es nun mal im Leben, es gab verschiedene Etappen, die alle zusammen mein bisheriges Leben bildeten. Sie alle waren verschieden und hatten genau wie Legobausteine, andere Farben oder Größen. Und trotzdem gehörten und passten sie auf irgendeine Art und Weise zusammen.

Trotzdem war ich jetzt keinen Schritt weiter, was meine Frage betraf. Sollte ich, oder sollte ich nicht?
Ich wusste, dass ich nicht ewig bei den Leys bleiben konnte, im Grunde erwartete ich beinah jeden Tag, dass sie verkündeten ich müsste in eine neue Familie oder zurück ins Waisenhaus.
Anfangs hatte ich noch gedacht, dass ich einfach Pech im Leben gehabt hätte, doch nach drei Familien hatte ich mich einfach damit abgefunden, dass es einfach an mir liegen musste.
Ich konnte nicht einfach wie ein kleines Kind die Augen zu machen und glauben, dass einen so die anderen nicht sahen, ich hatte mich der Wahrheit gestellt und gelernt sie zu akzeptieren.
Auch wenn ich wusste, dass meine Erkenntnis nicht unbedingt förderlich für mein Selbstwertgefühl waren.
So war es immer, wenn ich bei Kandra oder Shey war, rückten diese Gedanken in den Hintergrund, aber wenn ich alleine zu Hause war geisterten sie ständig in meinen Gedanken rum wie ein zu anhänglicher Welpe, den man nicht mehr los wurde.
Aber irgendwann musste ich doch einen Schritt weitermachen, ich konnte nicht ewig an diesem Punkt im Leben stehen. Ich wusste, dass ich es einfach wagen und hingehen sollte, aber es war schwierig.
Für andere Leute war es bloß ein simples Treffen, vielleicht auch nur eine flüchtige Bekanntschaft, die wie das Leben an einem vorbei zog.
Für mich bedeutete diese Treffen mehr, als man sich zu erst vorstellen konnte.
Es fühlte sich an wie ein Zug, der unaufhörlich weiter fuhr, jedoch wusste ich nicht, wo sein Ziel lag.
Jetzt konnte ich noch aussteigen, aber würde ich auch später noch die Chance dazu bekommen?
Ich wusste es nicht, aber wenn ich nichts unternahm, würde ich es nie herausfinden und vielleicht wunderbare Stationen verpassen.

Plötzlich fiel mir etwas ein. Wozu hatte man denn eine verrückte Freundin, die einen täglich mit Horoskopen zu spammte?
Ich hoffte Sheyleen hatte mir meines schon geschickt und es würde mir auch heute wieder helfen. Ich nahm mein Handy von meinem Nachttisch und öffnete Whatsapp. Und tatsächlich, ich hatte eine Nachricht von Shey bekommen. Ich öffnete sie etwas aufgeregt und betete sie würde mir helfen.
"Heute wirst du eine Entscheidung treffen, die dein weiteres Leben verändern wird"
Danke, so weit war ich auch schon. Jedoch wusste ich jetzt immer noch nicht, ob die Veränderung positiv oder negativ sein würde.
Also war ich wohl wieder auf mich allein gestellt. Wie immer.

Als alles nicht weiter half, nahm ich schließlich die Münze in die Hand und betrachtete sie genauer.
Ich wusste, dass ich nur versuchte Zeit zu schinden und die Entscheidung hinauszögern und jemand anderem überlassen wollte.

Es war eine alte Münze die vermutlich aus Asien stammte, jedoch konnte man auf meinen Rat in Sachen antike Münzen nicht wirklich Vertrauen, da ich über sie genau so viel wusste, wie man im alten Rom über Aliens wusste - Also gar nichts.
Auf der einen Seite waren 5 Schriftzeichen eingeritzt und in der Mitte befand sich ein Baum, der mich stark an eine Trauerweide erinnerte.
Irgendwie gruselig, dass die Münze meinen derzeitigen Gemütszustand widerspiegelte.
Ich schloss die Augen und warf die Münze hoch.
Nur hatte ich vorher irgendwie nicht bedacht, dass ich mit Augen zu so talentiert im Münzen hochwerfen war wie Indianer im Iglu bauen.
Als ich das realisierte, schaute ich mich etwas panisch nach der Münze um und sah wie sie gerade neben Namur landete. Ich seufzte erleichtert und beugte mit vor um zu schauen ob Kopf oder Zahl oben war, jedoch verstand Namur das als Wink herzukommen und setzte sich so auf die Münze.
Ich versuchte ihn jammernd weg zu schieben, er hatte sich mittlerweile vor mein Bett gelegt, natürlich immer noch auf der Münze sitzend, und fing an zu schnurren. Er dachte wohl meine Versuche in wegschieben zu wollen wäre Streicheleinheiten. Es war zum verzweifeln. Sein Geschnurre hielt jedoch nicht lange an, denn als ich bemerkt hatte, dass wegschieben sinnlos war, wollte ich ihn hochheben. Was schlecht endete. Er verstand das wohl als eine Einladung zum kämpfen und schnappte nach meinem Arm. Oh nein, mein Lieber, diesen Pulli zerstörst du nicht auch noch! Ich sah seufzend ein, dass es wohl erstmal hoffnungslos war. Sobald Namur erstmal in Spiel- und Kampflaune war, sah er alles und jeden als Spielpartner. Und mein Arm hatte nicht wirklich Interesse.
Andererseits hatte ich so die Lösung für mein Problem gefunden. Vielleicht war es ein Zeichen dafür, dass ich lieber nicht zum Treffen gehen sollte.
Ich konnte es mir einfach machen und Namur einfach dort liegen, lassen, schließlich hatte er jetzt ja indirekt eine Entscheidung für mich getroffen. War das nicht genau das, was ich eben noch gewollt hatte?
Aber warum fühlte ich mich jetzt derart wie ein Feigling, nur weil ich Jordan keine Chance gab?
Meine Gedanken waren einfach zu viel. Zu viel, zu verwirrend und zu widersprüchlich.
Ich fühlte mich wie ein Autor, der zu viele Ideen auf einmal hatte und deswegen nicht bei seinem Buch weiter kam.
Aber was taten Autoren in solch einer Lage? Ich würde ja einen Autor fragen, aber ich musste leider zu geben, dass keiner meiner Freunde- das wären dann Kandra und Shey- ein Autor war. Es sei denn man zählte Horoskop Autor mit dazu.
Ich entschloss mich dazu, mich einfach irgendwie abzulenken und die Entscheidung zu verdrängen. Denn im Moment waren mir meine Gedanken und Gefühle einfach zu viel. Vor allem, weil ich gestern noch unbedingt wollte, dass Jordan mich nach einem weiteren Treffen fragte und ich jetzt diesen Wunsch wieder in Frage stellte. Ja, ich war vielleicht dezent kompliziert und widersprüchlich.
Was mir jedes mal half meinen Kopf frei zu kriegen war malen oder zeichnen. Wenn ich malte, war mein Kopf genauso leer, wie die leere Leinwand vor mir. Jedoch zeigte ich kaum jemandem meine Bilder, sie waren mir zu persönlich, weil sie meine Gedanken und Gefühle offen zur Schau stellten und ich diese nicht mit anderen teilen wollte.

Ein Labyrinth aus SchweigenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt