16. Kapitel

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Hermines Sicht:

Es war bereits lange nach Ausgangssperre, als ich durch das Portraitloch stieg und die schneenasse Kapuze meines Mantels in den Nacken schob. Ich konnte nicht genau sagen, wie viel Zeit vergangen war, seit ich und Malfoy uns drunten in den Kerkern verabschiedet hatten. Waren es ein paar Minuten oder Stunden gewesen, seit... seit diesem Kuss?

Natürlich brauchte man für gewöhnlich nicht länger als höchstens fünf Minuten vom Untergeschoss bis zum Gryffindorgemeinschaftsraum, doch ich hatte einfach ein wenig Zeit für mich allein gebraucht. Zeit, um über die Geschehnisse der letzten Wochen nachzudenken und mir darüber im Klaren werden, was nun eigentlich Sache war.

Denn desto mehr ich mich mit dem Geschehenen auseinandersetzte, desto mehr wurde mir klar, wie sehr ich mich in Malfoy getäuscht hatte.

Nie, wirklich niemals, hätte ich gedacht, dass ich das hier einmal sagen würde, doch Draco Malfoy war verletzlich. Gerade die Begegnung im Raum der Wünsche hatte mir gezeigt, dass er empfindsam sein und Emotionen zeigen konnte. Er hatte geweint. Ehrlich geweint. Zwar wusste ich noch immer nicht, was der Auslöser dessen gewesen war, doch hatte er mir offen seine Tränen gezeigt und war geblieben, um die meinen zu trocknen.

Zeitweise, ja mit Sicherheit sogar größtenteils, vermochte Malfoy ein ich-bezogenes Arschloch, gar ein arroganter Kotzbrocken zu sein, keine Frage. Doch hatte ich nie gedacht, dass es etwas gab, das ihn derart aus der Fassung brachte. Nie hatte ich darüber nachgedacht, dass es etwas gab, worum sich ein Malfoy sorgen musste. Ich hatte mich noch nie weiter damit beschäftigt, doch war ich wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass das einzige, worüber sich diese Familie Gedanken machte, die Reinheit ihres eigenen Blutes war.

Doch ganz unverhofft und ohne, dass ich damit gerechnet hatte, belehrte mich Malfoy nun eines besseren. Denn nicht nur im Raum der Wünsche hatte er mir eine Seite an sich offenbart, die so gar nicht dem Malfoy glich, den ich in den vergangenen Jahren kennengelernt hatte, nein. Auch vorhin auf dem Eis des schwarzen Sees, hatte ich einen mir völlig fremden Draco beobachtet, wie er mit geschlossenen Augen über das zugefrorene Wasser getanzt war. Es war unsagbar faszinierend gewesen zuzusehen, wie kunstvoll er über das Eis schnellte, vorwärts, rückwärts, sich drehte und scharf abbremste.

Nicht ein einziges Mal war er aus dem Gleichgewicht geraten, er hatte nur immer diesen völlig gelassenen Gesichtsausdruck gehabt, als könne er noch Ewigkeiten so weiter tanzen. Und wie ich so an der Uferbegrenzung gehockt und ihn beobachtet hatte, war mir etwas klar geworden: Diese Seite an ihm war unbeschreiblich attraktiv.

Und dann war da auch dieser Kuss gewesen. Normalerweise war ich ein Mensch, der alles immer doppelt und dreifach überdachte, bevor er handelte. Ich kratzte zunächst all mein Wissen zusammen und bedachte jede einzelne Folge, die mein Tun haben könnte. Doch ich hatte eine Antwort gebraucht, sofort.

Ohne lange darüber nachzudenken, hatte ich ihn geküsst. Es hatte sich unbeschreiblich angefühlt. Ich fand keine Worte dafür, was es mit mir machte, wenn Malfoy mir so nah war.

Es war komplett anders als mit Ron. Rons Küsse waren vorsichtig, weich und zärtlich. Aber... es fehlte das gewisse Etwas. Das, was diese Küsse begehrenswert gemacht hätten. Dracos hatten dies. Seine Küsse waren leidenschaftlich, fast feurig und wie eine Droge.

Ich konnte es nicht leugnen: Ich empfand etwas für Malfoy. Ich wusste nicht, was es war, aber da war etwas. Ein Gefühl, ein Empfinden, das sich bereits vor einiger Zeit in mein Herz geschlichen hatte und mich immerzu an ihn denken ließ.

War ich verliebt in ihn? Oder war es nur eine harmlose Schwärmerei, die in wenigen Wochen wieder verschwunden war? Ich wusste es nicht. Aber das, was ich wusste war, dass ich es nicht ändern wollte.

Klar, das hier war nicht irgendwer, aber gerade das, machte dieses Gefühl zu etwas ganz besonderem. Ich wollte in seiner Nähe sein, immerzu. Wollte seinen Körper an meinem spüren und Fühlen wie unsere Lippen sich berührten und miteinander verschmolzen.

Mein Atem beschleunigte sich merklich und ein leises Lächeln stahl sich ohne mein Zutun auf mein Gesicht, als ich mir vorstellte in seinen Armen zu liegen und einfach nur zu reden.

Draco war gebildet und schlau und nicht, dass Ron dumm war, doch ernsthafte Gespräche, die nicht von Qudditch handelten oder aus Klagen über die Unmengen an Hausaufgaben bestanden, konnte man mit ihm aufgrund seines unzähmbaren Temperamentes einfach nicht führen.

Wie aufs Stichwort hörte ich mit einem Mal Stimmen aus dem oberen Stockwerk. Harry und Ron kamen, vertieft in ein Gespräch über das Quidditchspiel der Chudley Channons am kommenden Wochenende, die Treppe runter und als Ron den Kopf hob und mich freudig angrinste, bekam ich auf einmal ein flaues Gefühl in der Magengegend.

»Hermine!« rief er und lief auf mich zu. »Wo bist du denn gewesen? Wir dachten, dir ginge es nicht gut...«

Müde schälte ich mich aus meinem Mantel und ließ ich mich in einen der samtenen Sofa vor dem prasselnden Kaminfeuer nieder und auch Ron und Harry machten es sich bequem.

»Ich... ähm...« Ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg. Merlin, jetzt musste ich mir was ausdenken! »Ich, also, ich musste mir bloß ein wenig die Beine vertreten.« log ich, eher wenig überzeugend.

Doch Ron schien mir zu glauben und zog mich auf seinen Schoß. Wie leichtgläubig, ja geradezu naiv er doch war. Obwohl es mir in diesem Fall zugute kam, runzelte ich besorgt die Augenbrauen. Ron war niedlich, klar, doch Denken war noch nie seine Stärke gewesen.

Harry hingegen beäugte mich misstrauisch. »Die Beine vertreten? Warum bist du nicht zu uns in die Große Halle gekommen?« fragte er und in seiner Stimme lag etwas Anklagendes, was Ron aber gekonnt ignorierte, als er abwehrend die Hände hob und erklärte: »Harry, lass mal gut sein, das ist Hermine, sie wird garantiert nichts verbotenes gemacht haben!«

Und der feste Ton und auch, dass Ron sich noch nicht einmal umdrehte, um sich zu vergewissern, dass ich auch wirklich keinen Dreck am Stecken hatte, versetzte mir einen tiefen Stich.

Merlin und Morgana, was hatte ich nur getan!? Ich war doch in Ron verliebt oder etwa nicht? Ich meine, okay, wir waren jetzt gerade einmal eine Woche zusammen, doch ich hatte schon so lange Gefühle für ihn. Seit der zweiten Klasse war da dieses kribbelnde warme Gefühl gewesen, immer wenn er mich ansah. Diese Geborgenheit, wenn ich ihm nah war. Da konnte ich doch nicht gleichzeitig etwas für Malfoy fühlen!

Und als Ron sich dann vorbeugte und mich zärtlich küsste, überrollte mich das schlechte Gewissen nur nahezu. Seine Hände umfassten meine Taille und ein eisiger Schauer jagte über meinen Rücken.

Wie konnte ich ihm das nur antun? Ron hatte es nicht verdient so mir nichts dir nichts von Malfoy ersetzt zu werden. Doch egal, wie sehr ich auch versuchte, das gleiche Feuerwerk, wie bei Malfoys Lippen zu erzeugen, es gelang mir nicht. Ganz gleich, wie sehr in in diesem Kuss mit Ron versank, meine Gedanken wanderten immer wieder zu Malfoy. Und ich stellte mir vor wie es wäre, ihn an Rons Stelle zu küssen und ein feuriges Kribbeln fuhr durch meinen ganzen Körper. Es tat weh, doch mir wurde klar: Die Gefühle für Ron waren von früher, ein Nachbeben aus längst vergangenen Tagen. Die Gefühle für Malfoy dagegen waren jetzt.

Ich war nicht in Ron verliebt. Nicht mehr.
Ich war in Malfoy verliebt.

Silbersturmgrau ~Zwischen Liebe und Hass~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt