•1 Rückkehr

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Der angenehme Duft von Plätzchen und Kakao dringt durch meine Nase, als ich schwungvoll die Haustür öffne. Nur mühsam schaffe ich es, meine zwei schweren Koffer über die Türschwelle zu schleppen und werfe sie mit einem lauten, mehr oder weniger nicht erwünschten Knall in die Ecke, in der sonst immer die bunten und unordentlichen Schuhe meiner Geschwister stehen.

Dieser unerwartete Ton scheint alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben, denn nur kurze Zeit später öffnet sich die Zwischentür und ein kleines Mädchen, gerade sechs Jahre alt geworden, steht im Rahmen. Mit geöffnetem Mund steht sie vor mir, scheint nicht genau zu wissen, was sie tun sollte.

Ob sie mich erkennt?
„Hallo Annika.", sage ich lächelnd und beuge mich zu ihr runter. Kritisch mustert sie mich mit ihren großen, braunen Teddybäraugen und zupft an ihrem wundervoll rotem Kleid. Schmerzhaft stelle ich fest, dass die Kleine wahrhaftig überlegt, ob sie mich kennt und wo genau sie mich zuordnen soll.
Sie war damals schließlich erst drei Jahre alt.

Doch kurz bevor ich mich wieder aufrichten wollte, weil ich akzeptierte das es doch eine zu lange Zeit war, findet das kleine Mädchen ihre Stimme wieder.

„Ellie?", quiekt sie aufrichtig. Ich bilde mir ein, Hoffnung in ihrem Tonfall zu hören.
„Ja, Annie. Du bist so groß geworden!", ich schlucke den Klos in meinem Hals schnell runter als ich bemerke, dass ich den Tränen so unendlich nahe bin. Ich hatte meine kleine Schwester schon so lange nicht mehr gesehen.

Allmählich ziert ein breites Lächeln die kleinen Lippen und ohne zu zögern kommt sie auf mich zu gestürmt. Ihre langen, blonden Haare wippen hin und her, ehe sie in meine Arme fällt.

Ich drücke sie fest. So fest ich kann.
Ihre Hände legen sich um meinen Hals und ich könnte schwören sie schluchzen zu hören.
„Ich bin jetzt da, Annie.", flüstere ich unter anderem erleichtert das sie sich an mich erinnert.

Weitere Silhouetten erscheinen in der Tür und ich muss den Personen nicht einmal ins Gesicht schauen um zu wissen, wer sie sind.

„Annika, das Essen ist-..."
Ich erkenne seine Stimme sofort.
„Ellie?", verwundert geht mein Bruder einen Schritt auf mich zu und erst jetzt wage ich mich, in sein Gesicht zu sehen. Die selben braunen Augen, die gleichen blonde Haare. „Ich glaube-... ich sehe nicht recht! Ellie ist wieder da! Kai! Kai komm her!", lachend und mit Tränen in den Augen kommt auch er auf uns beide zu. Ehe ich mich versehe legen sich auch seine langen Arme um unsere beiden Körper.

„Deine Haare sind heller.", mein Bruder sieht mich an. „Und du trägst einen stylischen Mantel und nicht mehr diese hässliche Jacke. Ellie, du siehst so erwachsen aus."
„Mach doch nicht so ein Krach, Espen.", stutzig bleibt das Ebenbild von Espen im Türrahmen stehen. Kai, mein großer Bruder. „Oh mein-..."
Aber anders als meine anderen beiden Geschwister kommt er nicht sofort auf mich zu. „Ellie Dubois! Du verdammter Esel! Wie kannst du es wagen so lange weg zu bleiben, ohne ein Sterbenswörtchen!", ich weiß er meint es nicht so. Kai ist um einiges nachtragender als sein Bruder. Doch dann löst sich seine angespannte Haltung, er lässt die Schultern erleichtert fallen und stampft schnellen Schrittes auf mich zu.

Er legt nicht seine Arme um mich, sondern belässt es dabei, seine Hand auf meiner Schulter ruhen zu lassen. Sofort spüre ich die Wärme um mich herum. Ein angenehmes Gefühl fließt durch meine Adern und ich könnte weinen vor Glück.
Alle meine Sinne scheinen für einen Moment überfordert zu sein, weil ich mich auf nichts wirklich konzentrieren konnte.

Meine Geschwister hatten, bis auf Annie, sich nicht verändert.

Ich bin endlich zuhause.

Doch das wohlig, warme Gefühl lässt prompt nach, als ich aufschaue und in zwei sturmgraue Augen blicke, die mich enttäuscht anfunkeln.

Auf einmal ist es, als würde mein Herz einfrieren. Ich stoße meine Geschwister vorsichtig von mir, lächle sie kurz an und gebe Ihnen zu verstehen, dass ich einen Augenblick mit Mom alleine sein möchte.
Espen reagiert sofort und nimmt Annie an die Hand, um sie in ihr Kinderzimmer zu führen und Kai versucht sich freundlicherweise an meinen Koffern, die selbst dem Sportler einiges abverlangen. Nach dem zweiten Versuch trägt er sie ins Wohnzimmer.

Ich schweige die Person vor mir an, suche vergebens nach Worten die meiner Schande gerecht werden würden und sehe im Endeffekt doch verschämt zu Boden. Für das was ich getan habe, gibt es keine Worte.

„Drei Jahre.", sagt sie ruhig, doch das Zittern in ihrer Stimme kann sie nur schwer verstecken. „Drei verdammte Jahre!" Ich schlucke mehrmals, traue mich nicht, ihr in die Augen zu sehen.
„Warum jetzt? Wieso bist du hier, Ellie?", fast schon spöttisch spuckt sie mir die Worte vor die Füße.

„Ich-..."
„Du was?"
„Ich habe euch vermisst.", gestehe ich schließlich und fasse neuen Mut. Ich halte meinen Kopf aufrecht und sehe in ihr Gesicht.

Erschrocken stelle ich fest, wie alt sie doch geworden war. Wie müde und kaputt sie aussieht.
Ihr einst gold glänzendes Haar liegt nur noch strohig auf ihrer Schulter. Bei genauerem hinsehen erkenne ich wenige graue Strähnen, die sie offenbar nicht mal versucht zu verstecken. Dabei war ihr ihr Aussehen immer so wichtig.

„Und dann dachtest du, es wäre alles vergessen?"
„Nein. Ich weiß, ich habe Fehler gemacht."
„Sehr egoistische Fehler.", betont sie lauthals und verschwindet wieder zurück ins Wohnzimmer.

Der Druck in meiner Brust macht sich schmerzhaft spürbar und für einen kurzen Moment denke ich, ich würde ersticken.
Der Klos in meinem Hals ist letztendlich zu groß, er versperrt meine Atemwege. Somit bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn zu lösen.
Leise fließen Tränen über meine Wangen und ich halte meine Hand vor den Mund, damit mein Schluchzen nicht sofort zu Annie durchdringt. Sie hat mich gerade wieder.
Nein, ich habe sie gerade wieder. Ich möchte die Drei nicht mehr verlieren.

„Ellie...", Kai kommt überfordert auf mich zu. Ich weiß, er kann nicht mit Gefühlen umgehen. Deswegen schüttle ich den Kopf und krächze: „Es geht gleich wieder."

Mit dieser Antwort scheint er zufrieden zu sein, denn er hebt mir ein Taschentuch entgegen und verschwindet in die selbe Richtung wie Mom.

Ich wusste es wird nicht leicht.
Ich wusste sie würden es mir nicht so schnell verzeihen.
Aber ich wusste nicht, dass es so hart sein würde.

Hoped you'd stayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt