•4 Begegnung

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Ich bin abgehauen. Weil sich die Gedanken in meinem Kopf vermehrten und das stechende Gefühl in meiner Brust mir jegliche Hoffnung gab, zu atmen.

Weil ich dachte, Glück ist etwas, das man sich mit Geld nicht kaufen kann und die Liebe der Familie soviel mehr Wert ist. Und das hatte ich schließlich. Die Liebe meiner Familie und von Sander. Trotzdem fragte sich die Stimme in meinem Kopf: Warum das alles? Wofür kämpfen, wenn es im Endeffekt nichts gibt, wofür sich das Kämpfen lohnt? Alles andere um mich herum wurde still.

Für mich gab es nur noch einen Ausweg; ich musste weg hier und lernen.
Lernen zu atmen.
Lernen zu leben.
Lernen frei zu sein.

Heute begreife ich erst wirklich, was ich damit angerichtet habe.

Diese Gedanken gehen mir auch zweieinhalb Wochen später während dem Einkaufen nicht aus dem Kopf. Kai, der mit Tüten bewaffnet und zielsicher durch den Laden läuft, scheint genauso gedankenverloren zu sein. Denn auch er dreht sich kein einziges Mal zu mir und Annika um.

Mom hat uns allen einkaufen aufgedonnert, weil sie dachte, es wäre eine gute Idee wieder etwas mehr Alltag reinzubringen. Aber keiner von uns teilte diese Ansicht.

Keiner außer Annie, die sich am Liebsten von mir losreißen würde um in die Kinderabteilung zu rennen. Doch ich halte sie an der Hand, denn wir haben nicht genug Geld dabei um ihr auch noch etwas zu kaufen. Auch wenn es an meinem Gewissen nagt.

Der kleine Laden hat sich kein bisschen verändert. Er ist immer sauber und ordentlich, alle Regale stehen noch haargenau so, wie ich es in Erinnerung habe und sogar die Verkäufer sind noch die selben. Auch wenn es merkwürdig klingt, aber es beruhigt mich auf eine angenehme Art und Weise. Hauptsächlich zu wissen, dass sich in den Jahren nicht alles verändert hat.

Es ist etwas, das geblieben ist.

Aus diesem Grund finde ich die Milch, Eier und den Käse sofort, während Kai die anderen Dinge besorgt, die Mom auf einen Zettel geschrieben hatte.

„Ellie, komm mit mir Spielsachen gucken!", sie zieht an meiner Hand.
Ich greife noch zu einer Dose mit Mandarinen und erinnere mich an die Zeit, in der ich mich fast nur davon ernährt hatte. Und das ist gar nicht so lange her. „Ellie!"
„Annie, heute nicht. Wir gucken ein andermal.", trotzig sieht sie zu Boden.
„Sagt Mama auch immer.", murmelt sie.

Ich weiß, denke ich und widme mich wieder den Mandarinen zu.
Just in diesem Moment schafft es Annie tatsächlich sich von meiner Hand loszureißen und rennt los.
„Annika! Komm wieder her!", rufe ich hinterher, doch sie ignoriert es.
Seufzend laufe ich ihr nach, etwas schneller als sonst weil ich ganz genau weiß, das Annie das Talent hat, regelmäßig verloren zu gehen. „Anni!"

Als hätte ich es geahnt, verschwindet sie aus meinem Sichtfeld.

„Scheiße.", murmle ich und stürme, mit Milch und Eiern bewaffnet in die Spielsachenabteilung.

„Annie, bitte! Komm wieder her."
Doch es ist still. Kein einziges Kind ist hier zu sehen.

Seufzend laufe ich durch die Abteilungen.
Dann höre ich sie lachen. „Annie!"
Und wieder Gelächter. „Annika, das ist nicht witzig!", ich versuche ihren Standort zu lokalisieren und folge ihrer Stimme.

Immer schneller werdend sehe ich, wie sie versucht sich von mir zu verstecken.
Sie denkt wohl, es ist ein Spiel.

Doch das bringt mich nicht weiter.
Also versuche ich sie endgültig zu schnappen, laufe um die Kurve und merke erst nicht, dass genau in diesem Moment jemand nach Gewürzen sucht.

Erst als ich unsanft gegen die Person stoße, die Eier platschend auf den Boden krachen und ich ein lautes „Pass doch auf!" höre, realisiere ich meine Dummheit.  Auch der Mensch hatte etwas abbekommen.

„Shit! Annie!", fluche ich und betrachte mein Werk. Auf seinem grauen T-Shirt sind nun gelbe Flecken. „Sorry, aber meine kleine Schwester..."
O mein Gott.
Mir rutscht das Herz in die Hose, als ich den blonden Jungen zum zweiten Mal betrachte.

Auch er wirkt erschrocken und für einen kurzen Moment, sieht er mich an.
Sander.

Kann man in eine noch ungünstigere Situation kommen?

„Ich-...", stottere ich. Wie soll ich da wieder raus kommen.

„Du-..."
Gib auf, ohrfeigt mich meine innere Stimme.

Und wie Sander sich verändert hatte.
Alles an ihm war anders. Verdutzt betrachte ich sein fast schon hellblondes Haar, das nicht mehr kurz und gestylt ist, sondern in alle Richtungen fällt. Sein Kleidungsstil ist ganz anders, viel schlichter als damals und er ist dünner. Irgendwie... sportlicher.

Aber seine Augen. Verdammt diese Augen.

Ich räuspere mich verlegen und könnte schwören, knallrot angelaufen zu sein.

„Ellie!", höre ich Kai rufen, zum Glück mit Annie an der Hand. „Dir kann man wirklich keine Verantwortung übergeben.", sagt er lächelnd und kommt auf uns zu.

Ich drehe mich wieder zu Sander, der perplex Kai ansieht.

„D- das Shirt zahle ich dir.", presse ich hervor und erlange somit wieder seine Aufmerksamkeit.

Sein Blick ist kühl und emotionslos.
„Lass stecken."

Etwas erschrocken weiche ich von ihm. Er sieht nochmal kurz zu meinem Bruder, ehe er sich einfach umdreht und geht.

Ich bleibe noch eine Weile an Ort und Stelle, schaue ihm hinterher und versuche zu realisieren was da gerade passiert ist.

„Ellie, ist alles in Ordnung?", fragt Kai, doch mehr als ein Nicken kann ich ihm nicht geben.
Urplötzlich bildet sich ein Kloß in meinem Hals, den ich einfach nur los werden will.

Sander ist ein anderer Mensch geworden.
Und ich werde das Gefühl nicht los, dass es meine Schuld ist.

Hoped you'd stayWo Geschichten leben. Entdecke jetzt