15. Alte Bekannte

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Seufzend starrte Calen aus dem Fenster seines Gemaches. Im Garten Iremnas tanzte Nanette lachend mit dieser Zana über die mit prächtigen Blumen bestickte Wiese. Pure Freude und Zuneigung funkelten in den wunderschönen grünen Augen des Mädchens. Ihre mit Sommersprossen übersäten Wangen leuchteten rot vor Anstrengung und verliehen ihr einen kindlichen Anblick. Früher hatte Calen sie immer damit aufgezogen, dass sie so schnell farblich anlief und diese Röte so sehr im Kontrast zu ihren dunkelbraunen Locken stand, doch in der Nähe Zanas schien es sie nicht zu stören. Sie wirkte wie verändert und Calen konnte nicht behaupten, dass ihm das gefiel. Die Florana kam ihm falsch vor. Irgendetwas stimmte nicht. Kurz entschlossen erhob er sich von der Fensterbank und trat zu der Tür des Raumes, um seine jahrelange beste Freundin zur Rede zu stellen. Und um sich bei ihr zu entschuldigen. Er hätte sie nicht anlügen dürfen, als sie ihn beschuldigt hatte, mehr zu wissen, als er preisgab. Aber war er wirklich bereit, ihr sein größtes Geheimnis anzuvertrauen? Jetzt, da sie sich gestritten hatten und sie nur noch Zana im Kopf hatte? Ehe er eine Entscheidung treffen konnte, stieß der weiße Wolf Malerio die Tür auf.

»Was machst du hier?«, fuhr Calen ihn an und sah sich eilig auf dem Flur um, ob auch ja niemand in der Nähe war. Der Wolf verdrehte nur die Augen und streckte sich ausgiebig.

»Du musst unbedingt mit Nanette reden. Auch wenn Aiovena niemals einen Gast fortschicken wird, müssen wir Zana loswerden. Man riecht förmlich das Falsche an ihr. Und das Nanette auf einmal so verzaubert von ihr ist ... Äußerst verdächtig. Du kannst sagen was du willst, da ist Magie im Spiel. Und wenn diese Florana das Portal findet, dann -«

»Dann stecken wir in großen Schwierigkeiten, ich weiß«, unterbrach Calen ihn. »Nanette würde mir das niemals verzeihen. Und Marie? Sie wird mich für einen Verräter halten. Ganz zu schweigen von Aiovena. Wenn sie das herausfindet, bin ich das nächste Opfer der Schatten. Dabei wollte ich doch nur meinen Bruder wiedersehen ...«

Betrübt sah Calen auf die dunklen Holzdielen. Ein schwerer Stein legte sich auf sein Herz und erschwerte ihm das Atmen. Er wusste nicht, ob es damals ein Fehler gewesen war, sich auf dieses Angebot einzulassen, aber was hatte er für eine Wahl gehabt? Er hatte Zafir einfach wiedersehen müssen und sei es nur hin und wieder für einige kurze Augenblicke. Mammon hatte genau gewusst, womit er ihn ködern konnte.

»Für die nächste Zeit wirst du das nicht können. Besonders jetzt, wo Nanette misstrauisch ist und dir nicht mehr vertraut, musst du dich normal verhalten. Dein Schauspiel war zwar überzeugend, dass du Zafir zum ersten Mal wiedergesehen hast, aber Nanette ist nicht dumm. Benimm dich besser als normal. Konzentriere dich auf Maries Krönung, finde eine Lösung bezüglich Zana und vertrage dich mit Nanette. Erst dann kannst du Zafir wiedersehen.«

Malerio sah ihn bitterernst an. Calen holte tief Luft, wusste, dass er keine andere Wahl hatte, so schwer es ihm auch fiel.

»Okay. Ich will ihn nur noch einmal sehen und mich von ihm verabschieden. Er soll nicht glauben, ich hätte ihn aufgegeben, wie Vater und Mutter damals. Und es war nicht nur Schauspiel. In dieser Form habe ich Zafir tatsächlich zum ersten Mal wiedergesehen.«

Verstehend nickte der Wolf.

»Ich wünsche dir viel Glück. Und nimm dich vor den Ruarkas in Acht. Die sind echt aufdringlich.«

Ein trauriges Lächeln schlich sich auf Calens Lippen.

»Ja, das sind sie«, murmelte er noch, während er in die geheime Kammer unter Iremna schlich und sich die richtigen Worte für den vorübergehenden Abschied Zafirs überlegte. Doch sie kamen nicht - als würden sie sich genauso wenig verabscheiden wollen, wie Calen es tat. Nicht noch einmal.

⚜🔱⚜

»Zafir?«

Calen zog das alte Leinentuch von dem für diesen staubigen Ort zu sauberen Spiegel. Er besaß eine ovale Form, war größer als ein durchschnittlicher Mann und wirkte wenig spektakulär. Das Glas war stumpf und das Spiegelbild Calens kaum erkennbar. Er lehnte an der hölzernen Wand der alten, vermodert riechenden Kammer und wirkte völlig fehl am Platz. Dennoch trat Calen ganz dicht an den Gegenstand heran und klopfte vorsichtig an. Er hielt den Atem an und wartete. Nichts geschah.

»Zafir!«, rief er nun energischer. Da regte sich etwas. Dunkelheit wallte in dem Spiegel auf, vertrieb das Milchige. Kälte ließ Calen die Haare zu Berge stehen. Eine Gänsehaut breitete sich unangenehm auf seiner Haut aus.

»Calen, wie schön dich wiederzusehen.«

Rote Augen glühten in der Finsternis auf. Langsam schob sich der mächtige Körper des schwarzen Wolfes durch den Spiegel.

»Mammon.«

Calen musste schlucken. Mit dem Schattenbringer hatte er nicht gerechnet. Unauffällig griff er nach seinem Dolch, bereit, ihn im Notfall zu verwenden.

»Was willst du?«, stieß er mühsam aus und versuchte das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken.

»Was sollte ich denn neben der Eroberung dieses Landes wollen? Mich möglicherweise bei dir für diesen wunderbaren Weg ins Herz des Lichts bedanken?«, säuselte der Wolf mit tiefer Stimme. Panik ergriff Calen, ließ ihn erstarren.

»Was?«, keuchte er und war kurz davor, zu stürzen. Schwindel packte ihn.

»Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, dass dieses Portal, das du vor Jahren geöffnet hast, um Zafir zu finden, unter Iremna liegt? Diese gemütliche Dunkelheit hier hat zwar nicht den Anschein danach, aber der Gestank des Lichts ist nicht zu überriechen. Solch eine Gelegenheit lasse ich mir doch nicht entgehen«, lachte er. »Nein, bestimmt nicht. Und dem Licht in die Burg zu folgen, wird nicht schwer sein. Deine Versiegelung wird meinen Schatten nicht lange standhalten.«

Calen glaubte, sich noch nie so sehr in seinem Leben gefürchtet zu haben. Das Blut gefror ihm förmlich in den Adern, als er die Worte Mammons realisierte.

»Nein«, hauchte er mehr zu sich selbst. Was hatte er getan? Entsetzt blickte der junge Erwachsene zu dem Schattenbringer auf. Dieser hatte die Lefzen zu einem grinsenden Zähnefletschen verzogen, als Calen herumwirbelte und nach Malerio rufen, ihn warnen wollte. Vergeblich. Ehe seiner Kehle auch nur ein Wort entweichen konnte, umschlangen ihn die Schatten, knebelten und fesselten ihn. Nur ein Keuchen entfloh ihm, als ihm das Bewusstsein geraubt wurde und er zu Boden stürzte. Ein zufriedener Ausdruck eroberte Mammons Züge, als seine Schergen den Prinzen durch das Portal und hinein in Erendir zerrten - in die Burg der Schatten.

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