100 Tage danach

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[Julie]

Seit fünf Tagen ist das Meer schon grau. Der wolkenverhangene Himmel verschmilzt mit dem Wasser zu einer trüben Masse ohne Anfang und Ende. Ich starre durch mein Zimmerfenster auf die Wellen, die sehnsüchtig und unaufhörlich den Strand zu küssen scheinen. Meine kalten Hände wärme ich an der Teetasse, die in meinem Schoß liegt. Atlas sitzt neben mir und schnurrt leise. Ich weiß, dass er mich mit seinen smaragdgrünen Augen beobachtet. Das tut er immer. Ob er weiß, was ich gerade denke? Ich wische mir eine dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und zwinge mich, meinen Blick vom Meer zu lösen, das traurig hin- und herschwabbt.
Stattdessen werfe ich einen Blick auf den Wecker auf meinem Nachtschrank. Sechs Uhr morgens und ich bin hellwach. An Schlaf ist sowieso nicht mehr zu denken. Schon lange nicht mehr. Ich trinke den letzten Schluck Tee und gehe in die Küche. Bei jedem Schritt durchzuckt die Kälte der Fliesen meine nackten Füße. Auf dem Küchentisch liegt ein kleines, rechteckiges Paket, eingewickelt in goldschimmernder Folie, auf dem in schwungvollen Buchstaben mein Name steht, daneben ein Zettel. Ich stelle meine Teetasse neben dem Zettel ab, nehme ihn in die Hand und lese: Pack es aus. Happy Birthday. Mama.
Verwundert lege ich ihn wieder auf den Tisch. Ich habe Geburtstag. Ich habe Geburtstag und das Meer ist grau. Atlas hat es anscheinend nicht nötig, mir zu gratulieren. Stattdessen windet er sich um meine dünnen Beine und beobachtet mich. Wie immer. Ich fülle ihm Futter in seinen Napf und erschaudere; die Fliesen betäuben meine Füße. Eine Weile stehe ich in der Küche und beobachte den fressenden Kater.
Ich wäre gerne eine Katze. Dann könnte ich mich in einem dunklen, warmen Pappkarton verstecken und müsste mit niemandem reden und niemals wieder rauskommen. Aber ich habe heute Geburtstag und das Meer ist grau. Und ich bin keine Katze, sondern immer noch ich. Und das wird sich auch nie ändern.

Als Mama nach Hause kommt, sitze ich wieder vor dem Fenster. Die graue Masse aus Himmel und Meer legt sich wie ein Schleier vor meine Augen. Mittlerweile werden die Wellen stärker und schlagen mit wütender Kraft gegen den Strand. Heute Abend wird wohl ein Sturm losbrechen. Mama klopft, bevor sie mein Zimmer betritt. Sie setzt sich neben mich und legt einen Arm um meine Schulter.
»Hey, Julie«, sagt sie und küsst meine Stirn, »Du hast dein Geschenk noch gar nicht ausgepackt.«
»Oh«, erwidere ich und bemerke in diesem Augenblick das goldschimmernde Paket in ihren Händen.
Der Schleier vor meinen Augen verflüchtigt sich langsam. Sie gibt mir das Geschenk, es fühlt sich schwer an. Ich reiße die funkelnde Folie ab und ein Lächeln macht sich auf meinem Gesicht breit. »Erinnerst du dich noch?«, fragt Mama leise, »Du hast als kleines Kind nicht genug von diesen Märchen bekommen. Jeden Abend musste ich dir ein Kapitel vorlesen, sonst hast du dich geweigert, zu schlafen.«
In meinen Händen halte ich ein völlig vergilbtes Buch aus dem Jahre 1953. Klebeband hält die meisten der Seiten zusammen und der Buchrücken wurde bereits mehr als einmal verstärkt. Finnische Tiermärchen; diese Geschichten haben mich immer in den Schlaf begleitet. In einer Zeit, in der alles noch okay war.
»Wo hast du das her?«, frage ich meine Mutter, den Blick noch immer auf dem Buch verweilend, während meine Finger gedankenverloren die Buchstaben auf der ersten Seite nachzeichnen.
»Beim Umzug habe ich es in einer alten Kiste von Oma gefunden. Sie muss es die ganze Zeit dort aufbewahrt haben, bis —«
Sie stockt. Das tut sie immer. Keiner von uns beiden redet gern über den Tag. Der Tag, der alles veränderte. Und unser Leben für immer auf den Kopf stellte. Ich löse meinen Blick vom Buch und schaue Mama an. Ihre Lachfältchen kräuseln sich, während sie mir liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht streicht. Doch ihr Blick ist so trüb wie das Meer. Das Lächeln erreicht ihre Augen nicht. Und ich bin mir nicht sicher, ob das jemals wieder passieren wird.

Irgendwo zwischen Tag und NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt