Adrenalin

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[Julie]

Ich kann meinen Atem in der Luft gefrieren sehen, als ich zum Schwimmbad jogge. Der kleine Rucksack auf meinem Rücken wiegt nicht viel, und dennoch fühle ich mich erdrückt von der Last.
Was machst du hier bitte gerade? Das ist doch total verrückt.
Doch anstatt auf meine mahnende innere Stimme zu hören, schaue ich auf die Uhr und beschleunige meinen Schritt.
Zehn Minuten nach acht Uhr. Ich biege um die letzte Ecke und die dunkle Mauer des Schwimmbads bäumt sich wie ein unbezwingbarer Gegner vor mir auf.
Finn wartet bereits auf mich, mit dem Rücken lässig an die Steinwand gelehnt, als sei das, was wir gleich tun würden, das Normalste der Welt. Auch in der Dunkelheit kann ich wieder das Glitzern in seinen Augen erkennen. »Ich hatte schon Angst, ich müsste heute ganz allein ein Verbrechen begehen«, ruft er mir lachend entgegen.
»Schrei es doch noch lauter raus, damit es auch wirklich jeder hört!«, zische ich und schaue mich ängstlich um. Meriks Einwohnerzahl ist so gering, dass man mit einer solchen Geschichte noch lange in aller Munde sein würde.
Finn legt seinen Kopf schief und sieht mich ernst an. »Warum hast du solche Angst davor, wie Menschen über dich denken? Dein Leben wäre so viel einfacher, wenn du einfach einen Fick auf die Meinung anderer geben würdest.«
»Mein Leben wäre einfacher, wenn ich dich nicht kennen würde. Dann würde ich nämlich auch nicht nachts in Schwimmbäder einbrechen.«
»Und dann würdest du weiterhin ein stinklangweiliges Leben führen und dich irgendwelchen gesellschaftlichen Normen unterordnen, damit dich jeder mag.«
Ich verstumme. Eine Mischung aus Wut und Trotz steigt in mir auf. Warum muss Finn mit allem, was er sagt, recht haben?
Er reicht mir seine Hand und sagt: »Los, du kletterst zuerst rüber.«
Nachdem es mir nach zwei wackeligen Anläufen endlich gelingt, über die Mauer zu steigen und unversehrt auf der anderen Seite zu landen, springt Finn mit nur einer schnellen Bewegung hinterher. Wir schauen uns auf dem Gelände des Schwimmbads um. Vor uns, in dichten Nebel gehüllt, befindet sich das Außenbecken, dessen Wasser so sehr ruht, dass man sich darin spiegeln könnte.
»Wirst du diesmal wieder mit deinen Klamotten baden?«, necke ich Finn. Doch ich bekomme keine Antwort. Stattdessen hat er bereits seine Jacke ausgezogen und macht sich gerade daran, auch das Shirt über seinen Kopf zu ziehen. Ich versuche, meinen Blick abzuwenden, doch es gelingt mir nicht. Jeder Muskel zeichnet sich unter seiner Haut ab, und ich ertappe mich dabei, wie ich Finn etwas zu lange anstarre.
»Jetzt du. Ich strippe hier ganz bestimmt nicht allein für dich«, weist er mich an. Zögerlich öffne ich den Reißverschluss meiner Jacke, doch verharre in der Bewegung.
Du kennst diesen Jungen überhaupt nicht.
Mein Herz schlägt gegen meine Brust.
Ben würde nicht wollen, dass du das tust.
Meine Finger verkrampfen sich.
Nachts in ein Schwimmbad einzubrechen, und dann noch mit einem Fremden. Das hätte ich mir niemals zugetraut. Mama und Ben wären krank vor Sorge. Schon wieder.
Für einen kurzen Moment denke ich daran, umzudrehen und die Sache abzublasen. Doch etwas hält mich davon ab. Ein Gefühl, das irgendwie elektrisierend wirkt. Als habe Finn meine Gedanken gelesen, sagt er: »Adrenalin.«
»Was?«
»Das, was du gerade fühlst, ist Adrenalin. Dein Körper wird in diesem Moment damit vollgepumpt und es will dich dazu zwingen, deinem Fluchtinstinkt zu folgen. Aber wenn du bleibst, wirst du dich so lebendig fühlen wie noch nie.«
Einen weiteren, kurzen Moment verharrt meine Hand auf dem Reißverschluss. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, ziehe ich ihn entschlossen runter und öffne meine Jacke.
Finn nickt mir zu. Ich nehme einen tiefen Atemzug.
Und dann springen wir gemeinsam in das eiskalte Wasser.
Er soll recht behalten. So lebendig habe ich mich noch nie gefühlt.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 23, 2020 ⏰

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