100 Tage davor

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[Julie, Vergangenheit]

Wir schweben über den Wolken. Unsere Körper füllen sich mit Glück und Sorglosigkeit, die Gedanken sind leicht und frei von Dunkelheit. Ich habe die Augen geschlossen, während Daumen und Zeigefinger meiner rechten Hand den Joint zu meinen Lippen führen und ich das Tabak-Grasgemisch mit einem tiefen Atemzug inhaliere. Ein paar Sekunden behalte ich es in meiner Lunge, dann steigen die Rauchschwaden aus Mund und Nase den Himmel empor. Ich öffne meine Augen und beobachte den langsamen Tanz des Qualms, bevor er sich allmählich über unseren Köpfen verflüchtigt.
Maylin kichert leise. »Lass mir auch noch was übrig.«
Eine Welle des Glücks durchfährt meinen Körper, wärmt mich bis in die Zehenspitzen und ich muss unweigerlich grinsen. Ich reiche ihr den Joint und verschränke die Arme hinter meinem Kopf. Wir liegen nebeneinander im Flughafen, unserem Baumhaus. Maylin hat sich damals einen Spaß daraus gemacht, es so zu taufen, weil wir es nie geschafft haben, den Bau abzuschließen. Dem Baumhaus fehlt das Dach. Mich stört das nicht. Klare Frühlingsnächte wie diese verbringe ich gern zwischen den Baumwipfeln auf den gepolsterten Europaletten und beobachte das magische Funkeln der Sterne, während die Zeit zu einer nebensächlichen Konstante ohne Bedeutung wird. Ich höre ein leises Knistern neben mir, als Maylin am Joint zieht. Feuerrot glimmt das Ende der Haschischzigarette auf und erhellt für einen kurzen Augenblick ihr Gesicht, das dem meinem identisch ist. Eineiige Zwillinge. Nur in einem von zweihundertfünfzig Fällen führt eine veränderte Zellteilung am Anfang der Schwangerschaft zu diesem Phänomen. Die Menschen in der griechischen Antike glaubten daran, dass eine Zwillingsgeburt das Resultat des Liebesaktes zwischen einem Gott und einer sterblichen Frau sei. Ob wir wohl in diesem Moment auch an Märchen glauben, die wir für die Wahrheit halten? Ruckartig verflüchtigten sich meine Gedanken wie der Rauch des Joints, als Maylin plötzlich hustet.
»Na, zu stark?«, lache ich.
»Gutes Zeug«, antwortet sie mit kratziger Stimme, »Hast du das von Ben?«
Mein Magen zieht sich zusammen, als sie ihn erwähnt. Augenblicklich schießt mir das Blut in den Kopf und mir wird schwindelig, mein Schädel dröhnt. Das Gras hat mich in den Himmel katapultiert und nur allein sein Name zieht mich mit einer solchen Wucht auf den Boden der Realität zurück, dass mir das Atmen schwerfällt. Unglaublich, wie ein einziger Mensch es schafft, in mir ein Chaos auszulösen, das ich nicht stoppen kann. In kreisenden Bewegungen presse ich die Zeigefinger an meine Schläfen, um einen klaren Gedanken fassen zu können, doch jeder Versuch mündet in einem weiteren Wirbel aus Gefühlen.
»Wow, Julie. Ich dachte, wir sind hier zum Chillen und nicht zum Trauern. Hängst du wirklich noch so krass an ihm?«
Maylin und ich teilen uns zwar das Aussehen, doch unser Charakter könnte unterschiedlicher nicht sein. Schon im Kindergarten beschäftigte ich mich lieber in einer ruhigen Ecke mit Malbüchern, während meine Zwillingsschwester mit den Jungs Fußball spielte. Erst als wir älter wurden, fanden wir allmählich ähnliche Interessen und näherten uns langsam einander an. Maylin ist der Wirbelwind, der nie seine Ruhe findet und in allem das Gute sieht. Sie verkörpert den typischen beliebten Teenie aus amerikanischen Highschool-Filmen. Nichts und niemand kann ihr etwas anhaben. Zugegeben: Ich bin etwas neidisch auf sie. Mein langweiliges Leben besteht nur aus Büchern, Malerei ... und Ben.
Im Kindergarten setzte er sich zu mir und schaute stumm dabei zu, wie ich die Giraffen in meinem Malbuch rot und grün ausmalte. Irgendwann schenkte er mir einen Block mit weißen Blättern und beobachtete mich dabei, wie ich ihn mit krakeligen, zweibeinigen Giraffen füllte. Seit diesem Tag ist Ben mein bester Freund. Wir besuchten zusammen die Grundschule und gehen nun auch in dieselbe Klasse am Gymnasium. Und nach all dieser Zeit passierte genau das, was niemals passieren sollte: Ich verliebte mich in ihn.
»Es ist kompliziert«, lüge ich. Es ist überhaupt nicht kompliziert. Ich habe mich in den Jungen verknallt, der mir vor zwölf Jahren ein paar weiße Blätter schenkte.
Maylin verdreht die Augen und seufzt. »Aha. Merkt man.«
Wortlos reicht sie mir den Joint, doch ich lehne mit einer beiläufigen Handbewegung ab. Mir ist die Lust auf Instant-Glück in Form von getrockneten Cannabisblüten vergangen.

Irgendwo zwischen Tag und NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt