Tausend Scherben

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[Julie]

Er hat die Beine auf dem Tisch verschränkt und sieht unverschämt gut in dem schwarzen Hoodie und der zerrissenen Jeans aus. Leichter Duft eines Parfums steigt mir in die Nase. Meine Augen verengen sich skeptisch. »Was machst du hier?«
»Witzig«, weicht er aus, »Das ist genau die Frage, die ich dir gestern am Strand auch gestellt habe. Darauf hast du mir übrigens immer noch keine Antwort gegeben.«
Bevor ich weiter nachhaken kann, ertönt die Schulglocke ein zweites Mal und Professor Fischer weist die Schüler an, sich auf ihre Plätze zu begeben. Widerwillig setze ich mich neben Finn und behalte die Tür im Auge. Hinter einigen Nachzüglern betritt auch endlich Ben den Biologieraum und ich spüre, wie die gesamte Anspannung aus meinem Körper weicht. Er nimmt auf seinem Stuhl schräg vor mir Platz, mein Puls normalisiert sich. Dann küsst er das Mädchen, das neben ihm sitzt.
Mein Unterkiefer klappt herunter.
Ich verliere die Kontrolle.
Und zerfalle in tausend Scherben.
Das Mädchen, das Bens Lippen berührt und sein Kinn mit einem Finger kichernd zu sich zieht, heißt Vanessa. Sie hat sich in den letzten Jahren einen Ruf erarbeitet, der ihr weit vorauseilt. Fast jeder Junge auf Merik kann von einer Nacht mit Nessy berichten. Umso unverständlicher ist es für mich, dass Ben sich auf sie einlässt. Mein Ben.
Schneid der dummen Schlampe die Haare ab, höre ich meine inneren Dämonen keifen. Doch ich kann nicht. Ich kann überhaupt nichts, außer hilflos dabei zuzuschauen, wie der einzige Sinn meines Lebens von einer zickigen, eingebildeten - und leider viel zu attraktiven - Blondine eingenommen wird. Bens Lippen lösen sich nur langsam von ihren und er dreht sich grinsend zu mir, als sei nie etwas gewesen. »Bevor ich es vergesse: Ich habe noch ein Geschenk für dich. Glaub bloß nicht, dass ich nicht an deinen Gebur —«
Er stockte, als sein Blick auf Finn fiel, und zog irritiert eine Braue hoch. »Kennen wir uns?«
Finn nimmt die Beine vom Tisch und beugt sich vor. »Nein, aber das lässt sich ja ganz leicht ändern. Soll ich dir auch gleich meine Nummer auf die Hand schreiben, Süßer?«
Bens verdatterter Gesichtsausdruck bringt mich zum Schmunzeln. Ehe er antworten kann, wird er von Professor Fischer ermahnt, sich umzudrehen und dem Unterricht zu folgen. Ich zwinge mich, mich auf die Erzählungen des Lehrers zu konzentrieren und Ben und Vanessa einfach auszublenden.
»Tut weh, hm?«, fragt Finn mich plötzlich.
Verständnislos wende ich mich ihm zu. »Was?«
»Ich habe doch gesehen, wie du ihn angeschaut hast, als er Blondi geküsst hat. Man konnte dir förmlich zuschauen, wie du zerfällst.«
In tausend Scherben ...
»
Ich ... Nein, Quatsch. Zwischen Ben und mir läuft nichts«, antworte ich rasch.
»Das sehe ich auch. Er küsst ja lieber die Alte da.«
Mit einem Finger deutet er auf Vanessa, die verspielt an Bens Ohr knabbert. Mein Magen zieht sich zusammen und ich spüre, wie Angst und Ekel sich in mir breit machen. Ben stellt schon mein ganzes Leben lang meinen Fels in der Brandung dar. Selbst an den dunkelsten Tagen ist er nicht von meiner Seite gewichen, sondern sorgt sich um mich und passt auf mich auf. Wenn ich unmittelbar vor dem Zerfall stehe, legt er meinen Kopf in seinen Schoß und erzählt mir Geschichten ferner Welten, damit ich die Welt um uns herum vergessen kann. Ihn jetzt zu verlieren, bedeutet für mich mehr als alles andere.
Ich drohe zu fallen.
Tief.
Zu tief.
Und nun sitze ich im Biologieraum, der immer meinen Zufluchtsort gebildet hat, trage rosafarbene Plüschhausschuhe und beobachte den Jungen, den ich liebe, dabei, wie er eine andere küsst und ihr die Nähe schenkt, die ich so sehr selbst bräuchte.
Finn stupst mich an. »Ich weiß, wir kennen uns noch nicht so gut. Aber ich weiß auch, dass du das, was sich in meiner Tasche befindet, gerade hervorragend gebrauchen könntest.«
»Und das wäre?«
»Eine halbe Flasche Wodka, vielleicht auch etwas mehr.«

Irgendwo zwischen Tag und NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt