28 Tage davor

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[Julie, Vergangenheit]

Ich stehe an den Türrahmen des Badezimmers gelehnt und beobachte Maylin dabei, wie sie vor dem Spiegel sorgfältig ihre Wange mit Concealer abdeckt.
»Heftig, wie stark man den Bluterguss noch sieht«, murmele ich betroffen. Kenans Antwort auf Maylins erotischen Tanz im Bootshaus ist eindeutig. Unter ihrem linken Auge zeichnen sich gelbe und grüne Flecken ab, der Beweis für die starke Gewalteinwirkung vor einer Woche.
»Ach, das fällt doch fast nicht mehr auf«, winkt sie mit einer lockeren Handbewegung ab. Ich sorge mich um meine Schwester. Wie kann sie weiterhin freiwillig mit einem Jungen zusammen sein, der ihr so etwas Grausames antat?
»Hätte ich gewusst, dass ... Ich hätte ihn davon abgehalten, Maylin.«
Sie legt den Kopf schief und schaut mich fragend an. »Das ist nicht deine Schuld. Das weißt du, oder?«
Als ich nicht antworte, seufzt sie und zieht mich zu sich. Nach einer langen Umarmung ergreift sie wieder das Wort. »Ich habe einen Fehler gemacht und Kenan hat mir einen Denkzettel verpasst, so einfach ist das.«
»Wieso trennst du dich nicht von ihm?«, schießt es aus mir heraus. Ich kann es nicht mehr ertragen, sie so zu sehen.
Maylin schmunzelt. »Weil ich ihn liebe, Julie.«

Pünktlich um neunzehn Uhr klingelt es. Mit dem verschmusten Atlas auf dem Arm öffne ich die Haustür und blicke in zwei grinsende Gesichter.
»Wow, was für eine Schönheit. Und du siehst auch ganz okay aus, Julie«, witzelt Anton und schnappt mir den Kater aus den Händen.
»Hör nicht auf ihn«, meldet sich Ben zu Wort, als er das Haus betritt, »Du bist vielleicht nicht so flauschig, aber trotzdem genauso süß wie Atlas.« Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn, welcher ein Feuerwerk der Glücksgefühle in mir entfacht.
»Maylin, möchtest du dir auch einen Kuss abholen?«, ruft Anton.
Trällernd hüpft sie zur Haustür. »Ich komme schon!« Sie trägt einen hautengen Jumpsuit, der jede ihrer Kurven betont. Kopfschüttelnd beobachte ich Maylin dabei, wie sie sich an Bens besten Freund schmiegt und nicht die Finger von ihm lassen kann, während Anton es sichtlich genießt, ihren Körper zu spüren.
»Hey, ist gut jetzt, ihr Turteltauben. Unser Abendbrot wird kalt«, ermahnt Ben die beiden und schiebt sie auseinander.
»Sushi kann gar nicht kalt werden ...«, entgegnet Maylin trotzig, löst sich jedoch schneller als erwartet von dem grinsenden Anton, greift nach der braunen Papiertüte in Bens Händen und begibt sich tänzelnd mit ihr ins Wohnzimmer. »Kommt ihr?«, lacht sie, als sie das Sushi auf dem Tisch vor dem Sofa verteilt und die Holzstäbchen für jeden von uns in der Mitte zerbricht.
Es ist zur Tradition geworden, dass Ben und Anton uns am ersten Tag eines neuen Monats besuchen und wir gemeinsam die japanischen Reisrollen bei einem Horrorfilm verspeisen. Zu viert quetschen wir uns auf die Couch und tauchen abwechselnd unser Sushi in die Sojasoße, während Maylin Annabelle 2 auf dem Fernseher startet. »Wusstet ihr, dass es diese Puppe tatsächlich gegeben hat?«, fragt sie mampfend.
Ben wischt sich über den Mund, bevor er antwortet. »Ja, habe mich darüber mal belesen. Hatte ganz harmlos angefangen. Annabelle veränderte zuerst immer mal wieder ihre Position und saß jedes Mal in einem anderen Zimmer, als die beiden jungen Frauen, denen sie gehörte, nach Hause kamen.« Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinab, als Ben seine Erzählung weiter ausführt. »Nach einem Monat hinterließ die Puppe dann auch Nachrichten auf Pergamentpapier. ›Help us‹ stand darauf in der Handschrift eines Kindes, doch viel verwunderlicher war, dass sich zu keinem Zeitpunkt Pergamentpapier in der Wohnung befand.«
Maylin hört Ben mit aufgerissenen Augen aufmerksam zu und vergisst dabei sogar das Kauen. Anton nutzt die Gelegenheit, um einen Arm um sie zu legen. »Keine Sorge, Babe, ich beschütze dich natürlich vor allen dämonischen Puppen.«
Sie grinst und knabbert spielerisch an seinem Ohr. In mir zieht sich alles zusammen, als ich die beiden beobachte. Meine Schwester ist noch nie der Typ für ernste Beziehungen gewesen, doch was sie hier gerade anfängt, könnte sie wirklich in Schwierigkeiten bringen. Hilflos schaue ich zu Ben, der meine Sorge in den Augen ablesen kann. Er zuckt mit den Schultern, versucht jedoch ein weiteres Mal, den Flirt zu unterbrechen. »Maylin, verrate uns doch mal, wie du dir das Veilchen zugezogen hast.«
Sofort verhärtet sich ihr Gesichtsausdruck und sie wendet sich wieder ihrem Sushi zu.
»Nicht so wichtig«, murmelt sie und stochert im Reis herum, »Erzähl du doch lieber noch etwas von Annabelle.«
Langsam beruhigt sich mein Puls wieder, als ich Bens ruhiger, dunkler Stimme lausche. Doch ich kann den Gedanken nicht aus meinem Kopf verscheuchen, dass meiner Schwester bald etwas Fürchterliches zustoßen wird.

Irgendwo zwischen Tag und NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt