Finn

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[Julie]

Der Junge hat braunes Haar, das ihm in nassen Strähnen ins Gesicht hängt. Seine Augen funkeln, obwohl es fast dunkel um uns herum ist. Ein Grinsen umspielt seine Lippen, während er direkt auf mich zukommt. Jeder Schritt, den er aus dem Wasser tut, entblößt einen weiteren Teil seines Körpers. Er ist mindestens einen halben Kopf größer als ich und ziemlich muskulös.
»Was machst du hier bei diesem Wetter?«, ruft er mir entgegen. Seine Stimme ist tief, aber dennoch weich.
»Was ich hier mache?«, schreie ich ihn an; einerseits, um den Sturm daran zu hindern, meine Worte zu verschlucken, andererseits, weil ich die Panik in mir kaum zurückhalten kann.
Er kommt näher und ich zwinge mich, meine Angst zu verstecken, indem ich mich nicht noch weiter von ihm entferne. Als er direkt vor mir steht, muss ich meinen Kopf heben, um ihm in die Augen zu schauen. Er ist nicht viel älter als ich, stelle ich fest.
»Ja, was machst du hier?«, fragt er mich erneut und sein Grinsen wird breiter. »Du hast dir wirklich das beste Wetter für einen Strandspaziergang ausgesucht.«
»Erstmal sagst du mir, warum du im Meer warst.« Und nach einem kurzen Blick an seinem Körper herunter füge ich nachdenklich hinzu: »Mit deiner ganzen Kleidung.«
Er schweigt, aber seine Augen lösen sich nicht von meinen. Unbehagen macht sich in mir breit, ich weiche seinem Blick aus und trete nervös von einem Fuß auf den anderen. Nach einer gefühlten Ewigkeit fragt er: »Warst du schon mal bei Sturm schwimmen?«
Perplex schaue ich ihn an. Das Grinsen ist aus seinem Gesicht gewichen. Es ist nicht zu erkennen, ob er die Frage wirklich ernst meint.
»Solltest du mal ausprobieren. Macht Spaß«, sagt er, und so schnell, wie sein schiefes Lächeln verschwunden ist, umspielt es auch schon wieder seine vollen Lippen.
In der Ferne donnert es. Wir stehen uns gegenüber, während die Regentropfen meinen Nacken hinunterlaufen und meine Schuhe durchtränken. Ich erschaudere.
»Coole Jacke übrigens«, er streift mir kurz über den Arm. Die Berührung wirkt elektrisierend, mein Herz springt gegen meine Brust.

»Wie heißt du?«, frage ich ihn und wundere mich im selben Moment über die Frage. Ich habe diesen Jungen noch nie zuvor gesehen. Merik gehört schon lange nicht mehr zu den Ostseeinseln, die bekannt dafür sind, viele Gäste zu empfangen. Das Gasthaus hat seit Monaten keine Besucher mehr aufgenommen. Seit dem Tag ...
»Ich bin Finn. Und du?«
»Julie«, antworte ich zaghaft. Will ich einem Fremden tatsächlich meinen Namen verraten? Und warum interessiert es mich überhaupt, wie er heißt?
»Okay, Julie mit der coolen Jacke«, sagt Finn und greift sich lässig ins nasse Haar, um das Salzwasser herauszuschütteln, »Ich wollte deinen romantischen Spaziergang am Strand nicht unterbrechen. Aber ich denke, dass wir uns schon sehr bald wiedersehen werden.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, trabt er los und lässt mich mit pochendem Herzen im Regen stehen.

Irgendwo zwischen Tag und NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt