35 Tage davor

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[Julie, Vergangenheit]

Das dumpfe Wummern der Bassboxen durchfährt meinen gesamten Körper. Zögerlich versuche ich, mich der Musik hinzugeben und einen Rhythmus zu finden. Die Schwüle der Sommernacht ist bis in die engen Räume des Bootshauses vorgedrungen, dem einzigen Club auf Merik. Unsere Kleidung klebt an unseren Körpern, während wir uns zum Takt bewegen.
Maylin hat die Augen geschlossen und kreist ihre Hüfte lasziv zum Beat, ein kleines Lächeln umspielt ihre halbgeöffneten Lippen. Mir fällt auf, wie sie von einigen jungen Männern um uns herum eingehend gemustert wird. Mit gierigen Blicken verfolgen sie jede ihrer Bewegungen in dem viel zu kurzen Kleid.
Ich lehne mich zu ihrem Ohr, um nicht schreien zu müssen. »Wollen wir nicht mal an die Bar gehen? Ich könnte einen Drink vertragen.«
Maylin öffnet die Augen und schüttelt den Kopf. »Das ist mein Lieblingssong! Lass uns noch ein bisschen tanzen«, bettelt sie und setzt ihren Hundeblick auf. Mein kläglicher Versuch, sie von der Tanzfläche zu locken, scheitert. Im betrunkenen Zustand ist meine Zwillingsschwester unausstehlich anzüglich. Noch ein Punkt, in dem wir uns unterscheiden, denke ich und versuche krampfhaft, mich in der Musik zu verlieren, um den Abend annähernd genießen zu können.
Zu allem Übel muss ich feststellen, dass sich ihr einer der Beobachter genähert hat und grinsend seinen Schritt an Maylins Hintern reibt. Anstatt ihn von sich zu stoßen, presst sie ihre Hüfte nur noch stärker gegen ihn und bewegt sich dabei auf und ab. Er greift ihr in das blond gefärbte Haar.
»Maylin, ich glaube nicht, dass ...«, fange ich an, doch meine Worte dringen nicht bis zu ihr durch. Sie hat sich bereits zu dem Mann umgedreht, ihren Körper an seinen gedrückt und die Hände um seinen Hals gelegt.
Beim Versuch, nach ihrer Hand zu greifen, stößt sie mich genervt weg. »Lass mich, Julie. Geh doch alleine an die Bar.«
Meine Haare kleben an der verschwitzten Stirn und das ungemütliche Trägerkleid, das viel zu viel Haut preisgibt, schnürt mich ein. Unbehagen macht sich in mir breit. Ich hasse Clubs. Ich hasse die schwüle Luft, die schlechte Musik, die engen Räume und die drängelnden Menschen. Am liebsten will ich einfach nur Zuhause in meinem Zimmer sitzen, die Stille der Nacht genießen und an meinem Aquarell weiterarbeiten, doch Maylin hat es mal wieder geschafft, mich zu einer Partynacht zu überreden.
»Nur wir beide«, hat sie gesagt und bereits vor dem Spiegel in einem ihrer knappen Kleider posiert, als stehe bereits außer Frage, dass wir ins Bootshaus gehen, »Das wird lustig, versprochen.«
Du bist so verdammt naiv, schimpfe ich mich selbst aus.
Unruhig sehe ich mich um und bemerke, wie auf einmal ein dunkelhaariger Junge mit energischem Schritt direkt auf Maylin zumarschiert. Bevor ich sie warnen kann, bäumt er sich schon vor ihr auf und fährt sie an: »Kannst du mir mal verraten, was das werden soll?!«
»Kenan!«, entfährt es Maylin überrascht.
Sofort zieht sie ihre Hände von ihrem Tanzpartner zurück, entfernt sich ein paar Schritte von ihm und zupft sich nervös den tiefen Ausschnitt zurecht. »Ich dachte, du wolltest für die Prüfung lernen«, lacht sie aufgewühlt. Spannung liegt in ihrem Körper.
»Das habe ich auch. Und jetzt wollte ich den Abend eigentlich entspannt ausklingen lassen. Aber dann musste ich ja dabei zuschauen, wie meine Freundin mit einem anderen Typen tanzt. Bist du eigentlich vollkommen zurückgeblieben?!«
Betroffen weicht Maylin seinem Blick aus.
»Orospu«, flucht Kenan auf seiner Muttersprache und spuckt auf den Boden.
Ich muss kein Türkisch sprechen, um zu verstehen, dass er Maylin gerade beleidigt hat. Wut steigt in mir auf, doch Kenans aggressive Art schüchtert mich ein und ich entscheide mich dafür, mich lieber nicht einzumischen.
Er fährt sich angespannt durchs Haar und beißt sich auf die Lippe. »Julie, entschuldige uns bitte. Ich muss mit deiner Schwester draußen ein ernstes Wort reden«, ruft er mir gereizt zu, greift Maylin am Arm und zerrt sie durch die Menschenmenge dem Ausgang entgegen.
Hilflos blicke ich den beiden hinterher und fühle mich inmitten der vielen Menschen einsamer als je zuvor. Mein Plan, mir an der Bar einen Drink zu genehmigen, klingt auf einmal sehr reizvoll in meinen Ohren. Was gibt es Besseres, als seine Sorgen in hochprozentigem Alkohol zu ertränken?
Ich drängele mich an den verschwitzten und tanzenden Menschen vorbei und nehme an der kleinen hölzernen Bar in Form eines Schiffes Platz. Nachdem ich mein Getränk bestellt habe, beobachte ich den Barkeeper dabei, wie er hingebungsvoll Rum, Gin, Tequila, Wodka und Curaçao-Likör vermischt. Er füllt das Glas mit Cola und Limettensaft auf und schiebt es mir zu. »Ein Long Island Ice Tea, bitte sehr.«
Ich lächele, als ich den Strohhalm an meine Lippen ansetze.
Zeit, zu vergessen.

Irgendwo zwischen Tag und NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt