SMS

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[Julie]

Die Kopfhörer in meinen Ohren auf volle Lautstärke gedreht, um das Geschrei meiner inneren Dämonen zu besiegen, starre ich schweigend an die Decke meines Zimmers. Die nächtliche Dunkelheit hat sich über mich gelegt und hüllt mich in das sanfte Gefühl von Sicherheit. Doch auch die lauteste Musik der Welt schafft es nicht, meine Gedanken zu stoppen. Stumm formen meine Lippen die Worte, die durch die Kopfhörer direkt in mein Herz dringen.

I left so long ago
You never noticed I was gone


Ben hat mich in der Schule die gesamte Zeit ignoriert und sich nur in der Nähe von Vanessa aufgehalten, die natürlich ihre Finger wieder nicht von ihm lassen konnte. Meine Schuldgefühle plagen mich, doch ich habe mich nicht getraut, ihn nach unserem Streit anzusprechen. Stattdessen beobachte ich ihn dabei, wie er die Lippen eines anderen Mädchens küsst.

It's time to walk away with nothing left
Nothing left in my soul


Ich habe ihn noch nie so wütend wie an diesem Morgen erlebt. Ben ist eigentlich nicht der Typ, der sich im Schulflur vor den Schließfächern mit einem anderen Jungen prügeln will. Ich habe etwas in ihm ausgelöst, das ihn rasend macht. Und nun hasst er mich dafür. Tränen rinnen meine Wangen hinab und werden vom Stoff des Kopfkissens aufgefangen.

I'm fading into myself

Unsanft reißt mich das Vibrieren meines Handys aus dem Fluss meines zerstörerischen Denkens. Ich starre mit zusammengekniffenen Augen auf das grelle Display, das die Nacht erhellt. Eine SMS von einer unbekannten Nummer.
»Bist du schon mal nachts ins Schwimmbad eingebrochen?«
Ein Gefühl verrät mir sofort, von wem die Nachricht stammt. Zunächst zögere ich, doch dann wandern meine Finger flink über die Buchstaben der Tastatur. »Erst badest du bei Sturm im Meer, dann verleitest du mich dazu, mich während der Schulzeit zu betrinken. Und jetzt möchtest du mit mir eine Straftat begehen?«
Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten.
»Mit dir zusammen würde ich auch auf den Mond fliegen.«
Ich muss über die Anmache schmunzeln. »Wie bist du an meine Nummer gekommen?«
Gespannt fixiere ich die drei Punkte in der Sprechblase - der Indikator dafür, dass Finn mir gerade antwortet. »Möglicherweise hast du mir dein Handy gegeben, als du betrunken warst. Und ganz eventuell habe ich mir dann deine Nummer notiert.«
Finn stellt für mich ein einziges Geheimnis dar. Wie aus heiterem Himmel taucht er eines Nachts auf, sitzt einen Tag später im Biologieraum neben mir und hat es geschafft, Ben mit wenigen Worten in den Wahnsinn zu treiben.
»Du willst also wirklich ins Schwimmbad einbrechen. Bist du lebensmüde?«
»Ja, ich bin müde vom Leben. Also lass uns etwas erleben, das uns wieder aufweckt.«
Ein dumpfes Hämmern lenkt meine Aufmerksamkeit auf das Fenster meines Zimmers. Skeptisch entferne ich einen Kopfhörer und schaue auf meinen Wecker. Es ist fast Mitternacht, niemand wird um diese Uhrzeit an meine Scheibe klopfen. Doch genau in diesem Moment vernehme ich das Geräusch wieder.
Angespannt springe ich aus dem Bett und nähere mich langsam dem Fenster, das den Blick auf die tiefschwarze Dunkelheit freigibt. Ein Schauer läuft meinen Rücken hinab. Als ich direkt vor dem Glas stehe, erkenne ich die schemenhaften Umrisse eines Menschen.
Ben steht auf der anderen Seite der Fensterscheibe und schaut mir in die Augen.

Irgendwo zwischen Tag und NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt