Zerbeultes Metall

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[Julie]

Verschlafen öffne ich mein Schließfach und greife nach den Kopfschmerztabletten, die ich für den Notfall dort verwahre. Ich seufze; der Blister ist fast leer. Hoffnungsvoll drücke ich die letzte Tablette aus der Verpackung und schlucke sie hinunter.
»Guten Morgen, Julie mit der coolen Jacke«, trällert eine fröhliche Stimme hinter mir. Ich drehe mich um. Finn steht grinsend vor mir, seinen Rucksack hat er lässig über die rechte Schulter geworfen. Er trägt ein rotkariertes Flanellhemd, die Füße stecken in schwarzen, abgewetzten Boots. Ich zwinge mein verkatertes Gesicht zu einem müden Lächeln und wundere mich im selben Augenblick, wie er so unglaublich munter sein kann.
Finn lehnt sich gegen die Schließfächer und schaut mich an. »Vielen Dank für die gestrige Nacht, das sollten wir wiederholen«, raunt er lüstern und lacht über seinen eigenen Witz.
Lustlos ziehe ich einen Mundwinkel nach oben, mir ist nicht nach Lachen zumute. »Du hast mich gestern einfach total betrunken im Stich gelassen«, meckere ich, »Wo musstest du denn plötzlich so schnell hin?«
Doch bevor Finn antworten kann, wird mein Schließfach mit einem solchen Knall zugeschlagen, dass ich vor Schreck einige Schritte zurücktaumele und entgeistert in Bens zornige Augen starre. Wutentbrannt packt er mich am Arm und faucht: »Wo zur Hölle warst du gestern?!«
»Ben, du tust mir weh«, jammere ich und versuche, mich aus seinem Griff zu befreien.
Doch seine Hand drückt nur noch fester zu. »Antworte! Deine Mutter und ich haben dich unzählige Male angerufen, sie war krank vor Sorge. Wo hast du dich rumgetrieben?«
»Ich ... Wir ... Wir waren im Flughafen und ... und —«
»Und sie hat mir Nachhilfe in Biologie gegeben. Also, natürlich in dem Schulfach. Wir wollen ja nicht, dass du etwas Falsches denkst«, unterbricht Finn mein Gestammel mit einer Lüge und grinst Ben unverhohlen an. Wie kann er in diesem Moment noch Witze reißen? Ängstlich schaue ich zu Ben, der seinen Griff um meinen Arm löst und stattdessen auf Finn losgeht.
»Du kleiner ...« Gereizt stößt er ihn gegen die Schließfächer, packt ihn am Hals und formt eine Faust auf der Höhe seiner Augen. »Du kommst hierher und denkst, dass du dir alles erlauben könntest, oder? Du hast ja keine Ahnung, was wir die letzten Monate durchmachen mussten. Halt dich gefälligst von Julie fern, sonst —«
Wieder unterbricht Finn. »Sonst was? Denkst du, ich hätte Angst vor dir? Da hast du dich getäuscht. Ich fürchte mich vor niemandem.«
Krachend donnert Bens Faust nur ein paar Zentimeter neben Finns Kopf ins Schließfach und zerbeult das dünne Metall. Eine Traube von Menschen hat sich um uns herum gebildet, um das Spektakel aus nächster Nähe mitzuerleben. Einige Schüler zücken ihre Handys.
»Mach den Neuen fertig!«, höre ich ein Mädchen lachend rufen.
Besorgt zerre ich an seinem Pullover und versuche, ihn von Finn zu lösen. »Ben, lass gut sein, bitte.«
»Hör nicht auf deine Freundin«, lacht Finn entspannt, »Wenn du zuschlägst, wirst du von der Schule suspendiert und dann habe ich Julie ganz für mich allein.«
Bens Augen flackern, doch er lockert seinen Griff. Dann wendet er sich mir zu. »In meinem ganzen Leben war ich noch nie so enttäuscht von dir. Du weißt genau, wie sehr deine Mutter und ich Angst um dich hatten. Dass du dich nach allem, was passiert ist, so verhältst ... Unglaublich. Und wehe, ich erwische dich noch einmal mit diesem Großmaul da«, er deutet auf Finn, »Dann kannst du was erleben, versprochen.«
Wütend stapft er auf die Menge der umstehenden Schüler zu und rempelt sie unsanft zur Seite. »Verpisst euch, hier gibt's nichts zu sehen.«

Irgendwo zwischen Tag und NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt