Viereinhalb Milliarden Jahre

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[Julie]

Sobald Professor Fischer endlich den Unterricht mit dem Klingeln beendet, packe ich meine Sachen und haste aus dem Biologieraum, ohne nach links oder rechts zu blicken. Ich will nach der ganzen Sache weder ein Wort mit Finn noch mit Ben wechseln, nie wieder am liebsten. Mein Herz sticht gegen meinen Brustkorb, als meine Füße immer schneller werden. Mein Atem beschleunigt sich, alles um mich herum verschwindet hinter einem grauen Schleier und ich fühle mich zurück ans Meer katapultiert. Ich ignoriere die Blicke der anderen, als ich durch den Schulflur renne und dabei immer wieder Schüler anrempele. Der Schleier vor meinen Augen verdichtet sich. Erst jetzt bemerke ich, dass es Tränen sind, die sich in meinen Augen bilden und heiß meine Wangen herabfließen.
Du bist wertlos, wertlos, wertlos, schreien meine Dämonen und fallen in schallendes Gelächter, dass mein Kopf dröhnt und droht, zu platzen. Ich versuche, ihren Worten keine Beachtung zu schenken und renne noch schneller, stoße die Tür zum Eingangsbereich auf und atme die kalte Oktoberluft ein, welche in meinen Lungen schmerzt. Doch ich genieße den Schmerz, durch ihn fühle ich mich auf irgendeine Weise lebendig.
Direkt neben dem Einstein-Gymnasium liegt der Meriker Wald, wobei diese Bezeichnung wohl etwas zu hochtrabend für die bescheidene Gruppe an Bäumen ist. Meine Füße tragen mich in den Wald hinein, fort von den Menschen, die mich anstarren, fort von Finn, fort von Ben. Meine Lunge füllt sich mit der kalten Luft und ich schmecke Blut.
An einem Baumstumpf angekommen, halte ich an und stütze mich schwer atmend darauf ab. Heiße Tränen tropfen auf das Holz und ich schaue ihnen dabei zu, wie sie langsam versickern und verschwinden.
Wenn du nicht aufpasst, verschwindest du auch, kreischen die Stimmen in meinem Kopf, und niemanden würde es interessieren.
Wutentbrannt balle ich eine Faust und will auf den Stamm einprügeln, als ich bemerke, dass ich nicht mehr allein bin. Aufgebracht wende ich mich Finn zu. »Was machst du hier?!«
»Wie oft wollen wir uns diese Frage denn noch gegenseitig stellen, ohne je darauf zu antworten?«
Ich gebe es auf, ich kann nicht mehr. Kraftlos sinke ich auf dem Baumstamm zusammen und starre auf meine Füße in den verdreckten Plüschhausschuhen. Tränen bahnen sich ihren Weg meine Wangen hinab.
»Ich habe dir etwas mitgebracht.«, sagt Finn und setzt sich neben mich. Unsere Schultern berühren sich und ich spüre die tröstende Wärme, die er ausstrahlt. In seiner linken Hand hält er den Wodka.
Ich muss schmunzeln. »Meinst du das ernst? Wir sollen uns wirklich jetzt betrinken?«
»Wann denn sonst?«, mit schiefem Grinsen dreht er die Flasche auf, »Man muss nur einen Anlass bestimmen.«
Sein Lächeln gefällt mir. Ich lehne mich an seine breite Schulter und atme den Duft seines Parfums ein. Er reichte mir den Alkohol. »Auf den Herzschmerz, auf die Arschlöcher und Schlampen dieser Welt, auf den vergeblichen Versuch, glücklich zu werden.«
»Auf die Dämonen in meinem Kopf«, flüstere ich, kippe einen großen Schluck der brennenden Flüssigkeit hinunter und wische mir die Tränen aus dem Gesicht.

Alles um mich herum dreht sich. Meine Welt, meine Gedanken, ich.
Das Pochen und Dröhnen meines Kopfes hat ungeahnte Dimensionen angenommen, ich kann es nicht mehr aufhalten. Ich verliere die Kontrolle im Chaos meiner selbst.
Ohne Ziel und unaufhaltsam treibe ich dem Himmel entgegen, die Welt unter meinen Füßen schrumpft zu einem kleinen Fleck ohne Bedeutung zusammen. Ich schaue nach oben, der Dunkelheit entgegen.
Finn und ich liegen auf den Europaletten im Flughafen und beobachten die Sterne. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie wir hierhergekommen sind, aber es ist mir auch egal. Längst habe ich jegliches Zeitgefühl verloren.
Er zieht mich mit seinen Worten auf die Erde zurück. »Ist es nicht verrückt, dass wir uns kennengelernt haben?«
Ich drehe meinen Kopf zur Seite und schaue ihn an. Im Schein des Mondes wirkt sein markantes Gesicht noch schöner, als es nicht ohnehin schon ist.
»Wie meinst du das?«, frage ich.
Finns Augen funkeln wie gestern Nacht, als er aus dem Meer gestiegen ist. Er legt seine Lippen an die Wodkaflasche und trinkt den letzten Schluck. »Vor mehr als viereinhalb Milliarden Jahren entstand die Erde. Es dauerte dann noch einmal eine ganze Weile, bis sich das erste Leben im Wasser entwickelte. Durch genetische Zufälle entstanden so irgendwann die ersten Pflanzen und Tiere und vor fast fünfzig Millionen Jahren  die ersten affenähnliche Tiere.« Angestrengt versuche ich unter Einfluss des Alkohols seinen Worten zu folgen. »Und irgendwann entwickelten sich aus einer bestimmten Affenart die Menschen, von denen wir abstammen. Generation für Generation lebte und starb auf diesem Planeten, bis unsere Mütter dann dich und mich zur Welt brachten. Dass wir uns auf Merik befinden, zu genau diesem Zeitpunkt, ist eine Verkettung von so vielen Zufällen, dass die Chance eigentlich gegen Null geht, sich zu begegnen.«
»Und trotzdem liegen wir nun zusammen hier und beobachten die Sterne«, beende ich gedankenverloren seine Überlegungen.
Finn nickt zustimmend. »Ist das nicht verrückt?«
Sein Handy vibriert und er greift in seine Tasche, um die Nachricht zu lesen. Im Licht des grellen Bildschirms kann ich erkennen, wie er seine Augen panisch aufreißt. Jäh springt er auf und reißt dabei fast die leere Wodkaflasche um. »Ich muss los. Jetzt!« Mit hektischen Bewegungen packt er seine Sachen zusammen und macht sich daran, die Leiter vom Flughafen herunterzuklettern. Ich will ihm folgen, doch meine Beine hören nicht auf das, was mein Kopf ihnen befiehlt. Taumelnd und mit dröhnendem Schädel bleibe ich am Abstieg der Leiter sitzen und schaue den Baum hinab.
„Wo willst du hin?", rufe ich ihm verwirrt hinterher.
Bevor er in der Nacht verschwindet, dreht er sich noch einmal zu mir um. »Ich bin froh, zur selben Zeit wie du auf dieser Welt zu leben, Julie.«

Irgendwo zwischen Tag und NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt