Pläne

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[Julie]

Ich trage meinen grauen Lieblingspullover, der an meinem dünnen Körper viel zu groß wirkt, während ich abwesend die Seiten des alten Buches, das in meinem Schoß liegt, verschlinge. Mittlerweile habe ich Finnische Tiermärchen schon so oft durchgelesen, dass ich jedes Wort auswendig aufsagen kann. Erschrocken zucke ich zusammen, als Ben sich neben mich auf die Treppe vor dem Biologieraum setzt und mich aus meiner Blase zieht. »Guten Morgen«, raunt er mir ins Ohr und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Jedes einzige Mal zerfließe ich unter dieser Berührung.
Er hält mir einen hellbraunen Umschlag vor die Nase. »Dein Geburtstagsgeschenk. Langsam bin ich echt spät dran damit.«
Mit einem verwirrten Schmunzeln nehme ich das Kuvert in die Hand. Es ist weder hübsch eingepackt noch beschriftet; typisch für Bens Pragmatismus. Mit verschwörerischem Blick hält er meine feingliedrigen Finger davon ab, die Klebelasche zu öffnen. »Du darfst es noch nicht jetzt auspacken.«
»Wann denn dann?«, frage ich verwundert.
Er schaut auf die Uhr an seinem Handgelenk und antwortet: »In genau dreizehn Stunden und sieben Minuten. Du solltest dir einen Wecker stellen.«
Grinsend zücke ich mein Handy, tippe die Uhrzeit ein und will mich gerade wieder Ben zuwenden, als ich bemerke, dass er bereits aufgestanden ist und ich allein auf der Treppe sitze. Ich sehe mich um und mein Herz sticht sofort gegen meine Brust, sowie ich ihn erblicke.
Vanessa und er stehen an der gegenüberliegenden Wand und strecken sich gegenseitig wild die Zunge in den Mund. Schmerz macht sich in mir breit und mein Schädel pocht.
»Hätte ich heute Morgen etwas gegessen, hätte ich das jetzt wohl ausgekotzt«, spottet eine angenehme, tiefe Stimme neben mir.
»Wie schaffst du es, jedes Mal im richtigen Moment aufzutauchen und mich abzulenken?«, lache ich.
Finn setzt sich breitbeinig auf den Platz, an dem zuvor noch Ben saß, und legt mir einen Arm um die Schulter. »Julie, ich bin ein weltbekannter Hellseher. Und es spricht nicht unbedingt für dich, dass du noch nie von mir gehört hast.«
Ich bemerke, dass in seiner Anwesenheit jeder Stress und alle Angst von mir abfällt. Unbewusst rücke ich etwas näher an ihn heran und genieße seine beruhigende Nähe, atme seinen Duft ein.
Finn räuspert sich und flüstert: »Der Durchgang, der das Außenbecken mit dem Innenbereich verbindet, wird nie verschlossen. Wir müssen also einfach nur da durchschwimmen.«
Ich schüttele unverständlich den Kopf. »Wovon redest du?«
»Von unserem Einbruch ins Schwimmbad! Hast du das etwa schon wieder vergessen?«, fragt er gespielt empört.
»Nein, aber ...«
»Gut. Also wir treffen uns heute Abend kurz nach acht Uhr vor der Mauer, die das Außenbecken umzäunt.«
Ungläubig blicke ich in sein Gesicht, in der Hoffnung, den Spaß seiner Aussage darin zu finden. Doch als die Schulglocke zum Unterricht klingelt, setzt er nur ein verschmitztes Grinsen auf, erhebt sich und sagt: »Vergiss deinen Bikini nicht. Wobei ... Nackt siehst du bestimmt auch ganz gut aus.«

Irgendwo zwischen Tag und NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt