Ich liebe dich

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[Julie]

»Willst du mich jetzt reinlassen oder nur weiter anstarren?«, lacht Ben nervös, »Ist ganz schön kalt hier draußen.« Er klettert ins Zimmer, als ich verdattert das Fenster öffne.
»Aber ich habe nur ein Shirt an!«, meckere ich.
Er schiebt die Lippe nach vorn, während er mich mustert. »Ich habe dich schon nackt gesehen, Julie.«
»Ja, im Kindergarten!«
Er lacht nur und drückt mich an seine breite Brust. »Vergiss das dumme Oberteil. Ich habe dir etwas viel Wichtigeres zu sagen.«
Wir setzen uns auf mein Bett und mein Herz pocht so stark, dass ich Angst habe, Ben könnte es hören. Er ist mir so nah. Sein Atem riecht nach Kaugummi und er hat sich mit meinem Lieblingsparfum eingesprüht. Seine muskulösen Oberarme spannen den Stoff seines grauen Hoodies. Ich verspüre das Bedürfnis, ihn zu berühren. Mir wird unendlich schwindelig in seiner Nähe.
Als habe er meine Gedanken gelesen, tippt er auf seinen Oberschenkel und sagt: »Komm her.«
Ich lege meinen Kopf auf ihm ab, wie immer, wenn er mir früher meinen Schmerz nehmen wollte.
»Ich möchte mich entschuldigen«, fängt Ben nach einer langen Pause an, »Ich hätte mich heute in der Schule nicht wie ein Vollidiot verhalten sollen. Und ich musste dir das jetzt einfach sagen, weil mich der Gedanke nicht in Ruhe ließ.«
Ich schaue zu ihm hinauf. Seine Augen spiegeln seine Reue und das Schuldgefühl wider.
»Du weißt, dass ich nicht so bin«, fährt er fort, »Aber du weißt auch, dass das alles nicht einfach für mich ist. Wir haben viel durchgemacht.«
Ich versuche, ihn zu beruhigen. »Ich habe mich aber auch falsch verhalten. Ich hätte nicht einfach die ganze Nacht fernbleiben sollen, ohne ein Wort zu sagen.«
Hörbar stößt er die Luft aus. »Nein, das hättest du tatsächlich nicht. Deine Mutter ist vor Sorge halb gestorben. Und ich auch.«
Beschämt wende ich meinen Blick ab und starre an die Decke. »Es tut mir leid. Wirklich.«
Bens Finger streichen sanft über meinen Arm. Die Schmetterlinge in meinem Bauch hüpfen vor Freude. Seine weichen Lippen sind nicht weit von meinen entfernt. Wenn ich sie doch nur spüren könnte.
Plötzlich verhärtet sich Bens Gesichtsausdruck und seine Finger verharren auf meinem Unterarm. »Was zur ... Sag mal, bist du bescheuert?«, faucht er mich an.
Perplex hebe ich meinen Kopf. Als ich seinem Blick folge und sehe, was er sieht, zieht sich alles in mir zusammen.
»Warum machst du so was?«, schnaubt er ungläubig und packt meinen linken Unterarm mit beiden Händen. Unzählige rote und lilafarbene Narben zieren meine blasse Haut und erinnern an eine Zeit meines Lebens, die ich schon lange aus meinem Gedächtnis streichen wollte, doch Ben holt sie binnen einer Sekunde wieder zurück in die Gegenwart. Ein Gefühl von Scham und Angst nistet sich in mir ein, meine Dämonen wachen langsam wieder aus ihrem Schlaf auf.
Du bist so schwach, dass du es nicht einmal geschafft hast, die Schnitte tief genug zu setzen, kreischen sie lauthals und fallen in schallendes Gelächter. Ich will mir die Ohren zuhalten, doch ihre teuflischen Worte kann ich nicht stoppen. Fetzen meiner Erinnerung dringen zu mir durch.
Panik.
Schreie.
Blut.
Überall Blut.

Nur ein Flüstern dringt aus mir hervor. »Das ist schon lange her.«
»Julie ...« Ich fühle die Traurigkeit in seiner Stimme. Ich habe ihn verletzt, schon wieder. »Ich liebe dich«, flüstert Ben.
Meine Welt steht still. Für einen kurzen Moment ist alles perfekt.
»Ich liebe dich wie eine kleine Schwester. Und das ist auch der Grund, weshalb ich dich immer beschützen werde, hörst du? Immer. Niemand wird dir jemals wehtun, das verspreche ich dir. Du sollst niemals wieder einen Grund haben, dir das anzutun.«
Traurig schaue ich in Bens braune Augen und kann meine Welt darin langsam zusammenbrechen sehen.
Wenn du wüsstest, dass auch du einer der Gründe dafür bist.

Irgendwo zwischen Tag und NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt