Sturmnacht

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[Julie]

Ich soll recht behalten. In dieser Nacht wütet das Meer so stark wie schon lange nicht mehr. Regen prasselt gegen mein Fenster, die Tropfen formen groteske Gestalten, bevor sie in Windeseile wieder zerfließen. Das Rauschen der Wellen übertönt meine Gedanken und trägt mich fern von Zuhause. Atlas hat sich an mich gekuschelt, als spüre er, dass ich seine Nähe brauche. Er schnurrt leise. Früher haben mich die Stürme beruhigt, sie wiegten mich in den Schlaf. Doch nun steigt dunkle, tiefe Panik in mir auf, die meine Sinne benebelt und meine Gedanken kreisen lässt, bis ich das Pochen in meiner Brust, das sich anfühlt, als ob mein Herz gleich explodieren müsse, nicht mehr aushalte. Ich schwinge meine Füße aus dem Bett und setze sie auf dem Boden des Zimmers ab.
Einatmen. Ausatmen.
Mein Blick wandert wieder zum Fenster. Eine unsichtbare Kraft zwingt mich dazu, aufzustehen und es zu öffnen. Kraftvoll werde ich vom Wind begrüßt, vereinzelte Regentropfen treffen mein Gesicht. Ich schließe die Augen.
Einatmen. Ausatmen.
Als ich sie wieder öffne, greife ich zu meinen Schuhen und ziehe sie an. Ich schnappe mir meine gepunktete Regenjacke und streife sie mit der einen Hand über, während die andere die Haustür öffnet und hinter mir wieder zuzieht. Dann spüre ich, wie sich meine Füße in Bewegung setzen und mich zum Strand tragen. Kälte durchzuckt meinen Körper bei jedem Schritt, der Wind zieht mich unermüdlich ans Meer heran und der Regen nimmt mir die Sicht. Als meine Schuhspitzen fast schon das heranrollende Wasser berühren, bleibe ich stehen. Ich verliere jegliches Zeitgefühl. Es fühlt sich an, als würde ich schon seit Stunden den Sturm beobachten. Triefnasses Haar schlägt mir ins Gesicht, während ich mich am Strand umschaue. Er ist menschenleer. Vermutlich schlafen alle Zuhause in ihren gemütlichen Betten; trocken, warm und beschützt. Die umliegenden Häuser sind abgedunkelt, nur vereinzelte Laternen auf der Promenade hüllen die Umgebung in fahles, gelbes Licht.
In diesem Moment spüre ich plötzlich, dass ich nicht mehr allein bin. Hektisch wende ich meinen Kopf und schaue wieder aufs Meer hinaus. Doch das ist unmöglich. Kein normaldenkender Mensch kommt auf die Idee, bei diesem Wetter am Strand zu sein, geschweige denn zu schwimmen. Oder? Ich kneife meine Augen zusammen und forme mit meiner Hand einen Schirm, um die prasselnden Regentropfen abzuhalten. Die Umrisse nehmen langsam Gestalt an und mein Herz setzt für einen kurzen Moment aus.
»Das kann nicht wahr sein«, keuche ich erschrocken und taumele einige Meter zurück.
Aus dem Wasser erhebt sich ein Mensch.

Irgendwo zwischen Tag und NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt