Quallen

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[Julie]

„Fuck, fuck, fuck", fluche ich, als ich auf das leuchtende Zifferblatt des Weckers schaue. Hektisch springe ich auf und bin sofort hellwach. Ich greife nach der schwarzen Jeans und dem hellgrauen Pullover über meinem Schreibtischstuhl und renne ins Badezimmer. Als ich in den Spiegel blicke, will ich am liebsten sofort wieder ins Bett kriechen und mir die Decke über den Kopf ziehen. Die letzte Nacht hat mir kaum Schlaf geschenkt, dunkle Augenringe bestätigen das. Eine Weile stehe ich vor dem Spiegel und betrachte mich. Das viel zu große Shirt, das ich zum Schlafen trage, hängt zerknittert an meinem dünnen Körper. Meine langen Haare ähneln einem Vogelnest. Langsam fügen sich die Fetzen meiner Erinnerung zu einem Gesamtbild zusammen und meine Hände umklammern das Waschbecken so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten. Der Sturm. Der Strand. Finn.
Ich zwinge mich, meine Gedanken von letzter Nacht zu lösen und wasche mein verquollenes Gesicht mit eiskaltem Wasser. Keine Zeit für Träumereien, ermahne ich mich. Hastig ordne ich mein Haar und stecke es lieblos hoch, putze meine Zähne und decke die dunklen Augenringe ab, um wenigstens ein wenig alltagstauglich auf die anderen Schüler zu wirken. Dabei ist es eigentlich egal, wie ich aussehe; angeglotzt werde ich sowieso.
Nachdem ich mich angezogen habe, sprinte ich in die Küche und stoße erleichtert ein Stoßgebet aus, als ich die belegten Brote auf meinem Platz entdecke. Mama hat gewusst, dass ich keine Zeit finden würde, sie selbst zu schmieren. Rasch packe ich sie in meine Tasche und küsse den verschlafenen Atlas auf die kleine Nase, bevor ich nach meiner Regenjacke greife und die Haustür hinter mir zuziehe.
Ben wartet bereits vor der Schule auf mich und zieht skeptisch eine Braue hoch, als ich schwer atmend auf ihn zulaufe. Bei ihm angekommen, stütze ich mich mit einem Arm am Geländer der Treppe ab und schaue ihn erschöpft an, mein Brustkorb hebt und senkt sich dabei in schnellem Rhythmus.
»Hübsche Schuhe«, lacht er, »Ist das die neue Herbstmode?«
Erschrocken blicke ich an mir herab und stoße einen erstickten Schrei aus. Ich trage meine rosafarbenen Plüschhausschuhe. »Ich muss ... Das ... Aber ...«, stammele ich und sehe mich nervös um, ob bereits jemand mein Fauxpas bemerkt hat.
Ben lacht nur noch lauter und entblößt dabei seine weißen Zähne. Dann zieht er mich an der Schulter zu sich heran. Sein warmer Körper beruhigt mich. »Mach dir nichts draus, ich habe Zahnpasta auf dem Shirt«, sagt er und deutet auf die weißen Flecken über seiner Brust.
Wir prusten los. Ich schaue in Bens strahlende Augen und vergesse für einen Moment die Welt um mich herum. Als die Schulglocke klingelt, steigen wir gemeinsam die Stufen zum Eingangsbereich hoch und mir ist es plötzlich egal, dass uns alle anstarren.
»Wir sind besonders«, flüstert Ben mir ins Ohr, »Dafür solltest du dich niemals schämen.«

Mein Schließfach liegt glücklicherweise in direkter Nähe des Raumes, in dem wir gleich den Unterricht abhalten. Eilig verstaue ich meine Lunchbox und greife nach dem grünen Buch mit dem Titel Natura - Biologie in der 11. Klasse. Ich liebe dieses Schulfach. Im letzten Jahr habe ich freiwillig an der Forschungsarbeit meines Lehrers, Professor Arthur Fischer, mitgewirkt. Er studierte das Gift der Cyanea lamarckii, der Blauen Nesselqualle, welche rund um Merik in der Ostsee beheimatet ist. Mehr als einmal setzte er sich den schmerzhaften, aber ungefährlichen Nesselzellen des Tieres aus. Ich war fasziniert und schockiert zugleich, was ein Mensch bereitwillig für seine Ziele über sich ergehen ließ. Während wir gemeinsam die Erkenntnisse zusammentrugen, verlor sich Professor Fischer regelmäßig in Anekdoten über sein Leben auf Cebu, einer kleinen philippinischen Insel. Er erzählte mit rasselndem Atem und glasigen Augen von tropischen Wirbelstürmen, Mangrovenwäldern und Fuchshaien, während er beim Reden immer wieder die dicke Hornbrille den Nasenrücken hochschob. Nach diesen Gesprächen dröhnte mein Kopf bei dem Versuch, die vielen neuen Eindrücke zu verarbeiten.
Ich sperre das Schließfach ab und betrete den Biologieraum. Sofort steigt mir der gewohnte Geruch von Salzwasser und Schlick in die Nase. An den Wänden hängen dutzende Plakate, welche Gräser, Pflanzen und Tiere, die auf Merik beheimatet sind, abbilden. Neben dem Lehrerpult blubbert leise ein Aquarium voller Quallen. Ruhig und beständig vollziehen sie ihren faszinierenden Wassertanz. Heute trägt Professor Fischer den Pullover, den ich ihm zum erfolgreichen Abschluss seiner Forschungsarbeit geschenkt habe. World's Best Teacher habe ich auf die Brust drucken lassen. Als ich mich an den anderen Schülern vorbeischlängele, um meinen Platz in der hintersten Reihe zu erreichen, zwinkert er mir zu. Ich lächele zurück, doch bleibe dann abrupt in der Bewegung stehen. Das Lächeln weicht mir aus dem Gesicht, als mein Blick auf den Stuhl neben meinem fällt, der all die Zeit immer leer stand. Nun war er besetzt.
Finn sitzt an meinem Tisch und grinst mich an.

Irgendwo zwischen Tag und NachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt