Der Unbekannte

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Weg, weg! Ich muss hier einfach nur raus! So schnell es geht, so weit es geht, am Besten einfach über diese Mauer und nie wieder zurück.

Panisch schaue ich mich im Haus um. Keine Ahnung, wann Feyton wieder kommt, aber bis dahin sollte ich wie vom Erdboden verschluckt sein. Kein Anzeichen dafür, dass ich je da gewesen bin. Ja, das ist ein guter Plan. Jetzt muss ich nur einen kühlen Kopf behalten. Irgendwo muss es doch eine Schwachstelle in diesem System geben. Ich laufe zwei mal hin und her, bis ich mich auf ein schwarzes Sofa setze. Ganz ruhig, ich muss einen kühlen Kopf behalten. Ich muss zusammenfassen, was ich weiß und welche Nachteile ich habe. Ich verschränke die Arme übereinander und starre an die weiße Decke. So langsam habe ich mich auch dran gewöhnt, dass es an diesem Ort keine sauberen Farben gibt und alles mit einem grauen Film überzogen ist.

Alles, was ich bis jetzt weiß ist, dass man an diesen Ort Menschen wiederbeleben kann, auch wenn sie schon einige Zeit tot sind. Mit dem Gedanken habe ich mich abgefunden, anders kann ich mir meine Situation sonst auch nicht mehr erklären. Ich verstehe nur nicht, warum man grade mich zurückgeholt hat. Anscheinend kostet das Zurückholen eine menge Geld und so wichtig war ich Feyton nie. Er hat früher schon jede haben können. War er nicht nach meinem Tod froh darüber, dass er mich endlich los war? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich etwas Wichtiges weiß oder eine gewinnbringende Fähigkeit besitze. Denn darun ging es immer in Feytons Geschäften. Gewinn. Ich fühle mich so allein wie nie in meinem Leben, woher soll ich denn wissen, was ich jetzt tun soll und wie ich hier abhauen kann? Ich kann doch nicht einfach meine Sachen packen und weglaufen, wenn es so einfach wäre, hätte mich Feyton niemals allein gelassen. Und wenn ich mich jetzt umbringe, was garantiert mir, dass ich nicht sofort wieder zurück geholt werde? Und dann wüssten sie alle, dass es damals doch kein Unfall war, sondern Selbstmord. So sehr es mich auch drängt hier einfach abzuhauen und alles endlich hinter mir zu lassen, ich sollte wirklich lieber da bleiben und herausfinden, was man mit mir vor hat. Ja, vielleicht kann ich mich so bei Feyton einschleimen, damit ich wenistens meine Mutter und Liv zu mir holen kann. Aber den Gedanken verwerfe ich sofort wieder. Erstens habe ich Feyton noch nie dazu überreden können, etwas für mich zu tun und zweitens werde ich so etwas Grausames niemals meiner Familie antun, dass wäre nur für einen egoistischen Zweck meinerseits. Ich bin eben auf mich allein gestellt.

Ich stehe von dem Sofa auf und streuner durch das Haus. Ich muss so viel über Feyton und den Ort hier herausfinden, wie ich nur kann. Hier im Erdgeschoss gibt es nicht viel zu finden. In der Küche, im Wohnzimmer, in der Diele und in dem kleinen Badezimmer suche ich vergebens nach Papieren oder Notizen. Das gesamte Haus ist sehr weitläufig und die Decken sind sehr hoch, aber besonders im Wohnzimmer sind so wenig Möbel, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken läuft. Im ersten Stockwerk kommt es mir oft vor, als würde ich durch ein unbewohntes Haus laufen, nicht mal Bilder hängen an der Wand. Auch hier kann ich nichts finden. Kein Hinweis auf irgendwas. Im letzten Stock sacke ich auf einem Bett in irgendeinem weiteren Zimmer zusammen. Das kann doch nicht wahr sein! Nichts. Nichts. Und wieder nichts. Ich habe noch nicht mal dreckige Wäsche gefunden. Kein Zeichen auf Feytons Leben hier. Ich lehne mich zurück und lasse mich auf das weiche große Bett fallen. Verzweifelt schließe ich die Augen. Das Schwarz, das mich empfängt beruhigt mich und mein Puls senkt sich wieder.

Ich liege einige Zeit einfach nur auf dem Bett und lausche der Stille. Meine Ohren suchen vergebens nach einem Geräusch, aber da ist zum Glück nichts. Das habe ich seit gestern so vermisst. Stille.

"Auf so einer Gala bin ich wirklich nicht gut aufgehoben. Bitte Liv, lass uns einfach wieder zurück!", bettel ich meine kleine Schwester an. Aber sie schüttelt nur ihren Kopf. "Kommt gar nicht in Frage! Ich hab diesen Preis gewonnen und werde dich bis zum bitteren Ende zwingen auf dieser Gala zu bleiben." Ich blicke an mir hinunter. "Aber ich bin total underdressed. Schau mal, wie schön die Frauen hier alle sind", raune ich ihr neidisch zu. Es stimmt wirklich. Alle Frauen stolzieren solz und ehrfürchtig neben ihren Männern her und lassen sich von allen möglichen Fotographen ablichten. "Ach Mann, Julienne. Du verdirbst mir echt den Abend mit deinen Geheule. Hast du deine kleine Schwester denn gar nicht lieb?" Sie macht den unmöglichsten Hundeblick, den ich je von einem Menschen gesehen habe, sodass ich lachen muss. "Na komm schon", sie hakt sich bei mir unter. "Jetzt zeigen wir diesen hochnäsigen Schnepfen mal, wie man richtig über einen roten Teppich läuft." Sie zieht mich mit sich. Mein schwarzes bodenlanges Kleid raschelt bei jedem Schritt. Liv stellt sich den Fotographen mitten ins Bild und wirft ihre langen braunen Haare zurück. Anscheinend lieben die Fotographen sie, denn ein Blitzgewitter wie aus einem Hollywoodfilm prasselt auf sie nieder. "Links, Rechts. Hier. Schau mal hier rüber", ruft ein Repoter nach dem anderen. "He, wer ist das denn Hübsches? Gehört die zu ihnen, Herr Liarmann?", ruft ein Fotograph einem Mann neben mir zu. Der Mann schaut sich um und erblickt mich, wie ich da sehr schüchtern am Rand des roten Teppichs stehe. "Nein, eigentlich nicht, aber wir können ja ein paar Fotos zusammen machen", der Mann läuft zielsicher auf mich zu und raunt dann leise mit einer charmanten rauen Stimme: "Natürlich nur, wenn sie gestatten." So bin ich noch nie von einem Mann angesprochen wurden. Ich laufe ein wenig peinlich berührt an und lege dann meine Hand in die ausgestreckte Hand des Mannes. Er hat ganz weiche Hände. Der Mann zieht mich auf die Mitte des roten Teppichs und zieht mich sachte zur Seite, sodass ich perfekt für die Bilder der Fotographen stehe. Er riecht gut, nach herben Deo und einem angenehmen Aftershave. Ich schaue unauffällig an ihm hoch. Er trägt eine lässige Frisur mit für Männer eher längeren Haaren. Seine Wangenknochen sitzen zienlich weit oben und seine Lippen sind zu einem sympatischem Lächeln geformt. Noch ehe ich wegschauen kann, hat er bemerkt, dass ich ihn beobachtet habe. Er grinst und seine Augen blicken mich durch dringend an. Ein warmer Schauer läuft mir über den Rücken und in meinem Magen kribbelt es. Dann legt der Mann eine Hand auf meine Hüfte und zieht mich etwas näher an sich heran. "Na, weshalb sind sie hier?", fragt er zwischen seine Lippen. Er kann das so gut, dass er nicht mal sein Lächeln unterbricht. Ich bin mir sicher, dass ich das ganz bestimmt nicht kann. "Meine Schwester hat einen Preis gewonnen." Sage ich also ganz normal und lächel dann wieder. "Oh, beeindruckend. Dann halte ich drinnen nach Ihnen und Ihrer Schwester Ausschau. Ich heiße Feyton Liarmann." Er lässt meine Hüfte los und stellt sich mir gegenüber. "Julienne Whyte", erwieder ich zittrig und schüttel seine angebotene Hand. Feyton zwinkert mir kurz zu, dann verschwindet er in der Menschenmenge.

Ein leises Poltern lässt mich  hoch schrecken. Was war das? Ich horche angestrengt, kann aber nichts mehr hören. Da war doch eben etwas! Oder hat mich mein Körper getäuscht, weil er dachte, dass ich nich auf dem roten Teppich von damals stehe? Diese kleinen Flashbacks in meinen Träumen werfen mich vollkommen aus der Bahn. Ich beschließe nach unten zu laufen, hier oben finde ich sowieso nichts und bevor ich nochmal einschlafe und mein Leben weiter träume... Oder kann Feyton schon zurück sein? Aber das glaube ich weniger, er hätte doch sofort nach mir gebrüllt. Leise laufe ich die Treppenstufen hinunter, doch schon auf dem zweiten Absatz laufe ich in die Arme eines schwarz gekleideten, mir unbekannten Mannes. Mein Herzschlag setzt aus. Ich mache auf dem Absatz kehrt und will wieder nach oben laufen um mich in einem Badezimmer einschließen zu können, aber der Mann hat mich schon gesehen und ist mit zwei Sprüngen bei mir und hält mich an der Hüfte fest. "Nein!", schreie ich laut.

Zurückgeholt[Auf Wattpad beendet]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt