Kapitel 9- Ein neues Zuhause

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Die Landschaft zog vor meinen Augen vorbei, verwandelte sich in grün-braune Schlieren. Meine Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum. Wie gerne wäre ich zu meiner ersten Adoptivfamilie zurückgekehrt... Natürlich hatte ich das meinen Eltern auch vorgeschlagen. Doch sie waren sich sicher gewesen, dass Charles das nicht akzeptieren würde. Sein Plan war ja, dass ich William und Kate nie wiedersehen würde. Aber wenn ich zu meinen "deutschen Eltern" zurückkehren würde, wüssten sie, wo ich wäre. Also kam das nicht in Frage. Ach ja, Mama und Papa... Ich hatte mich dazu durchgerungen, sie weiterhin so zu nennen. Sie hatten mich aufgezogen- Ich konnte sie jetzt nicht einfach beim Vornamen nennen. Plötzlich wurde mir klar, wie sehr ich sie vermisste. In den letzten Wochen war so viel los gewesen, dass ich fast gar nicht an sie gedacht hatte. Sofort fühlte ich mich schuldig. Wie hatte ich sie fast vergessen können? Sie hatten mir doch immer so viel gegeben... Wie gerne hätte ich jetzt jemanden an meiner Seite, der mich stützte. Aber in so einer Situation musste ich ja auf mich alleine gestellt sein...

Ich bemerkte erst, dass ich weinte, als Ingrid Alexandra mir besorgt eine Hand auf den Arm legte. "Was ist los?" Schnell fuhr ich mir mit dem Handrücken über die Augen. Ich hatte es noch nie gemocht, wenn mich jemand beim Weinen beobachtete. Dabei kam ich mir immer so hilflos vor. Auch für Mitleid war ich noch nie zu haben gewesen. Ich nahm mein Leben lieber selbst in die Hand. "Es geht schon" Ich bemühte mich um eine feste Stimme, auch wenn ich ein leichtes Zittern nicht unterdrücken konnte. Verdammt. Dabei wollte ich doch stark wirken... Die Prinzessin sagte nichts, sondern blickte mich nur vielsagend an. Na gut, wenn sie unbedingt angeschnauzt werden wollte... Ihre Entscheidung. "Du wärst natürlich unglaublich gefasst, wenn du von deinen Eltern getrennt werden würdest, nicht?" Als ich bemerkte, wie sie erschrocken zurückzuckte, tat es mir im gleichen Moment leid. "Sorry... Ich werde ein wenig aggressiv, wenn ich verletzt bin..." Schief lächelte ich. Warum verscherzte ich es mir eigentlich sofort mit der Einzigen in meinem Alter? Zu meiner Verwunderung schien Norwegens Kronprinzessin aber nicht beleidigt zu sein. Ganz im Gegenteil, sie erwiderte mein Lächeln. "Ist schon gut... Ich verstehe dich. Ich wüsste nicht, wie ich reagieren würde, wenn mir so etwas passieren würde..." Als sie nichts mehr hinzufügte, antwortete ich auch nicht. Eigentlich war mir das Schweigen ganz Recht. Ich hatte nichts dagegen, ein wenig meinen Gedanken nachzuhängen.

"Ähm? Madame? Wir sind da" "Oh, ja, wirklich? Ich komme sofort!" Hastig sprang ich aus dem Wagen und landete in einer Kiesauffahrt. Hohe Linden begrünten die lange Einfahrt bis zur Haustür. Überall herum war es grün. Pure Natur, kein einziges Stück Beton weit und breit. Sogar ein kleines Spielhaus, das ich im Garten entdeckte, fügte sich perfekt in die Landschaft ein. Hier musste ein professioneller Gärtner am Werk sein- Gut, auch kein Wunder beim Kronprinzenpaar. Staunend sah ich mich um. In Deutschland hatte ich immer bedauert, dass wir nur einen klitzekleinen Garten hatten, in dem man zu allem überfluss noch die ganze Zeit das Autobrausen hörte, liebte ich es doch, mich im Grünen einfach einmal mit einem Buch hinzusetzen. Hier würde ich das bestimmt einmal machen können. Vielleicht würde mein Aufenthalt hier ja doch nicht so schlimm werden....

Erschöpft liess ich mich auf das riesige Himmelbett fallen. Unzählige, pastellfarbene Kissen luden zum Verweilen ein. Auf dem Nachttisch stapelten sich mindestens zehn Bücher, die Mette-Marit mir ausgesucht hatte, damit ich wohlfühlen konnte. Normalerweise hätte ich mich sofort darauf gestürzt, doch nun reichte meine Energie einfach nicht aus. Immer noch hatte ich die Ereignisse der letzten Tage nicht wirklich verkraftet. Staatsbesuch, Bankett, Vorwürfe, eine völlig neue Familie... Wie konnte ein Mensch das verarbeiten? Ich war am Ende meiner Kräfte und wusste nicht, was ich noch tun sollte. Mein Herz verzehrte sich sowohl nach meinen Adoptiveltern als Auch nach meinen echten. Und weder bei den einen noch bei den anderen durfte ich sein. Stattdessen durfte ich schauen, dass ich mit Wildfremden zurecht kam- Die ja zugegebenermassen ganz nett waren, aber trotzdem eben fremd.

Als es an der Tür klopfte, sah ich erschöpft hoch. "Wer ist da?", hakte ich leicht aggressiv nach. Gut möglich, dass es unangebracht war, aber mir war einfach alles zu viel. Da konnte ich mich nicht auch noch darauf konzentrieren, niemandem auf die Füße zu treten. Knarrend schwang die Holztür auf und Ingrid Alexandra steckte den Kopf hinein. "Meine Mutter lässt fragen, ob du Lust hast, runter zu kommen und mit zu Mittag zu essen. Wenn nein, können wir die auch etwas hochbringen..." 

Auch sie schien sich unwohl zu fühlen, fiel mir auf. Plötzlich wurde mir klar, was sie eigentlich für mich taten- Sie kannten mich alle erst einen Tag lang und ließen mich bei ihnen wohnen. Da musste ich jetzt auch wirklich nicht noch wie die letzte Zicke wirken... Irgendwie raffte ich mich auf und schaffte es irgendwie, ein leichtes Lächeln auf meine Lippen zu zwingen. "Ich komme schon!" Rasch schlüpfte ich in meine Pantoffeln und schlitterte über das glatte Holzparkett hinweg zur Tür.

Auf dem Weg zur Küche fiel mir immer wieder auf, dass die norwegische Prinzessin mich zögernd von der Seite ansah. Immer, wenn ich den Kopf drehte, sah sie jedoch schnell wieder weg. Wieder und wieder versuchte ich, sie auf frischer Tat zu ertappen. Vergeblich. Schlussendlich wurde es mir dann aber doch zu viel und ich blieb ruckartig stehen. "Ich weiß ja, dass ich fremd bin, aber wenn du mich ansehen willst, brauchst du das nicht zu verstecken! Ich beiße schon nicht!"

"Ich... Es ist nicht deswegen..." Ingrid Alexandra seufzte leise. "Du wirst schon noch alles früh genug erfahren. Meine Eltern wollen dir beim Essen etwas zeigen...", druckste sie herum. Schmerzhaft zog sich mein Magen zusammen. Noch mehr schlechte Nachrichten? "Gut...", bemerkte ich langgezogen, bemüht, meine Gedanken einigermaßen zu ordnen. Unruhig machte ich mich wieder auf den Weg, meine Gedanken kreisten nur noch um etwas: Was würde ich erfahren, sobald ich durch die Esszimmertür getreten war? War etwas mit meinen Eltern passiert?


Der Tag, an dem ich zu Englands Prinzessin wurde (Pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt