Verons PoV
Routine ist schon eine sehr seltsame Sache; Ich habe irgendwo einmal vor einer gefühlten Ewigkeit gelesen, dass es 30 Tage – oder waren es 60? 90? – braucht, um eine solche entstehen zu lassen.
Entweder ich bin ein ziemlicher Ausnahmefall, oder die medizinische Zeitschrift, aus der ich diese Information gezogen habe, ist vollkommener Bullshit.
Wie auch immer, es hat nur sechs Tage gedauert, bis sich eine Art Routine zwischen mir und den mysteriösen Briefen in meinem Vorderfach entwickelt hat – na gut, eigentlich vier, aber ich war so unglaublich mutig, das Wochenende auch miteinzuberechnen.
Mein erster Gedanke, wenn Troy mich morgens aus dem Bett wirft, zwei Chinchillas auf den Schultern – einer davon gehört ziemlich sicher mir, aber irgendwie hatte er noch nie Lust auf mich, deswegen habe ich ihn meinem Bruder überlassen, der ihn wöchentlich umtauft –, weil ich zwar am Wochenende ein schrecklicher Morgenmensch bin, unter der Woche aber für ein paar Stunden Schlaf töten würde, ist eigentlich immer: „Was steht wohl heute in Mars' Brief?"
Nicht, dass die Briefe so unglaublich poetisch wären oder ähnliches. Ich bezweifle, dass der Typ Romeo und Julia, Goethes Faust oder auch irgendein literarisches Meisterwerk überhaupt jemals angefasst, geschweige denn gelesen hat.
Aber irgendwie mag ich es; diese Aufmerksamkeit, die er mir indirekt schenkt. Er schreibt diese Briefe, jeden Tag (außer am Wochenende, offensichtlich, Schande über ihn dafür, dass er sein Versprechen nicht gehalten hat), nur für mich, und „nervt" mich mit irgendwelchen so alltäglichen Dingen. In Wirklichkeit sauge ich alles in mir auf wie ein Schwamm.
Doch da ist diese eine Sache, wegen der ich mich ganz sicher nicht in diesen Idioten verknallen werde; Wenn ihm doch angeblich so viel an mir liegt, warum verlässt er seine Freundin nicht?
Und da wären wir wieder, in meiner unendlichen Spirale der Gedanken, die nirgendwo anzufangen oder zu enden scheint.
Währenddessen kleben meine Augen an den ersten zwei Wörtern des Briefs, der sauber auseinandergefaltet vor mir auf meinem Karoblock liegt.
Ich kann mein armes, müdes Hirn irgendwie nicht dazu bringen weiterzulesen, während vorne an der Tafel unser Englischlehrer in einer Tour vor sich hin brabbelt, was eher an einen Podcast erinnert, den man sich zum Einschlafen anhört, als an eine Zusammenfassung von Egmont – ich denke sowieso nicht, dass irgendwer außer mir in dieser Klasse geschnallt hat, worum es in dem alten Schinken ging.
Kelly sitzt neben mir – korrigiere, mittlerweile mit Stielaugen halb auf meinem Schoß – und feilt an meinen Fingernägeln der linken Hand herum (sie LIEBT es, Leuten während des Unterrichts die Nägel zu machen und ich bin ihr williges Opfer). Ich glaube aber nicht, dass sie wirklich aufpasst, was sie da macht.
Viel mehr ist sie mit dem Lesen meines Briefs wohl schon um einiges weiter als ich, und so sehr mich das auch abfuckt, ich schlafe hier gleich im Sitzen ein.
„Und, was schreibst du drauf?", will sie nach einer halben Minute wissen, in der ich bewundert habe, wie verschnörkelt Mars' „H" ist, wenn man es lange genug anstarrt, ohne zu blinzeln.
Vollkommen überfordert starre ich ihr einige Sekunden lang ins Gesicht. Oh wow. Hatte sie die pinken Spitzen gestern auch schon? Hätte mir das auffallen-
„Der Brief, Venus. Sag nicht, du hast nur die ersten zwei Wörter angeglotzt – zehn Minuten lang", seufzt sie theatralisch, während sie geschickt ein klitzekleines Fläschchen schwarzen Nagellack aufdreht. Manchmal denke ich, dass der gesamte Klassenraum seinen Geruchssinn verloren hat, denn das Zeug stinkt wie Hölle – wieso fliegt Kelly eigentlich nie auf?
DU LIEST GERADE
Venus Boy
Teen Fiction»MfvfG, Mars.« So enden alle Briefe, die Venus in letzter Zeit von seinem geheimen Verehrer bekommt. Ganz ehrlich, wer verabschiedet sich schon "Mit fucking verknallten freundlichen Grüßen"? Grundsätzlich ist der transsexuelle Venus mit seiner mome...