Inferno

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Sie hatten wirklich den dunkelsten und vor allem tiefstgelegenen Kerker für ihn gewählt. Doch trotz der meterdicken Mauern, die Loki umgaben, spürte er die Präsenz des Bösen überdeutlich. Die Gefahr, die Hela darstellte, die Zerstörung, die sie bereits gebracht hatte und noch bringen würde... Ja, er konnte Hela selbst so klar wahrnehmen, als stünde sie direkt vor ihm.

Bei ihrer Ankunft war Loki zu durcheinander und verwirrt gewesen, um all das zu spüren. Doch nun, alleine mit sich selbst und seinen Sinnen, konnte er sich der düsteren Magie, die über ganz Asgard schwebte, nicht mehr entziehen. Und genau deshalb wusste er auch, dass nur noch ein Wunder dieses Reich retten konnte.

Oder er, wie Thor behauptet hatte?

Beinahe hätte er laut aufgelacht. Ausgerechnet er sollte Asgards letzte Hoffnung sein? Er hatte ja schon immer gewusst, dass es eine Menge Dummköpfe hier gab – aber das übertraf ja nun wirklich alles. Und von welcher alten Prophezeiung mochte Thor da wohl gefaselt haben? Er, Loki, kannte die gesamte Bibliothek im Palast auswendig. Noch dazu die geheimen Bibliotheken der Magier, von denen nicht mal Odin Kenntnis hatte. Nirgendwo gab es eine solche Prophezeiung, wie Thor sie erwähnt hatte.

Die Minuten verstrichen in quälender Langeweile, und ohne dass er es merkte, begann er, in seinem Gefängnis hin und her zu tigern. Was würde als nächstes kommen? Was hatte Thor mit ihm vor? Und vor allem – der Gedanke stieg urplötzlich in ihm auf und liess ihn frösteln – was würden sie mit ihm anstellen, wenn er nicht tun konnte, was sie von ihm erwarteten?

Loki hatte keine Ahnung, wie viele Stunden vergangen waren, seit man ihn hier unten eingesperrt hatte. Aber die Schritte, die sich seinem Gefängnis näherten, hörte er sofort.

Nicht mit seinen natürlichen Ohren, selbstverständlich.

Aber sein magisches Ohr verriet ihm nicht nur die Ankunft einer Besucherin, nein, als sie nahe genug heran war, wusste er auch sofort, um wen es sich handelte.

Alles in ihm versteifte sich, und nervös wartete er darauf, dass sich die Tür öffnete.

Was konnte seine ehemalige Dienerin Diandre von ihm wollen?




«Hela ist Odins Tochter aus der Ehe mit Freya, seiner verstorbenen ersten Frau.» erklärte Thor seinem Freund. Sie hatten soeben eine kleine Mahlzeit zusammen mit Hogun, Volstagg und Fandral eingenommen. Sif, die Kriegerin, war noch auf Wache.

«Und dein Vater hielt es nie für nötig, dich und...» Tony zögerte, sprach den Namen aber dann doch aus, «...Loki über ihre Existenz in Kenntnis zu setzen?»

Bei der Erwähnung von Lokis Namen stiess Hogun ein lautes Schnaufen aus, und Volstagg spuckte auf den Boden. Stark zuckte zusammen und bemühte sich, beide Reaktionen zu übergehen. Doch es überraschte ihn selbst, wie sehr es ihn traf.

Dass es ihn überhaupt traf...

Thor versuchte, Odin zu verteidigen. «Er hat sich diese Entscheidung sicher nicht leicht gemacht.» gab er zur Antwort. «Vater zufolge war Hela... schwierig. Vorsichtig ausgedrückt. In früheren Zeiten, als er noch in den Krieg gezogen ist, hat sie an Vaters Seite an vorderster Front mitgekämpft. Gemeinsam haben sie viele Welten erobert und unzählige Schlachten gewonnen. Aber Hela wurde immer blutrünstiger. Sie wollte immer mehr: mehr Siege, mehr Ruhm, mehr Macht. Schliesslich sah mein Vater keine andere Möglichkeit mehr, als sie zu verbannen.»

«Nach Helheim?»

«Nein.» Thor schüttelte den Kopf. «Er hat sie auf einen weit entfernten Planeten verbannt und dort unter strengster Bewachung in einem Kerker verwahren lassen. Aber vor rund drei Jahren hat er Kunde erhalten, dass sie entkommen konnte. Offenbar ist sie nach Helheim geflohen... dem einzigen Ort, wo sie sicher sein konnte, dass Vater nie nach ihr suchen würde.»

Thor selbst wusste erst seit Kurzem, dass es dieses Helheim überhaupt gab. Und dass es ein Ort war, den Odin fürchtete. Denn Helheim war bevölkert von schattenhaften Wesen aus allen neun Welten: einige noch lebendig, die meisten von ihnen jedoch in einem Zwischenstadium aus Tod und Leben. Es hiess, dass niemand, der nach Helheim ging, es unbeschadet wieder verlassen konnte.

Offenbar galt das nicht für die selbsternannte Königin des Reiches... Denn die Asgardianer wussten jetzt auch, dass Hela nur ein knappes halbes Jahr nach ihrer Ankunft die Herrschaft über Helheim angetreten hatte. Die Göttin des Todes: ein passender Titel für eine Königin, die über ein Reich von Halbtoten regierte!

Die Geschichte liess Tony Stark frösteln. Aber was ihn an der ganzen Sache fast am meisten erschütterte, war, dass Odin seine Erstgeborene ähnlich grausam behandelt hatte wie Loki.

Woraufhin ihm wieder eine seiner ersten Empfindungen in Bezug auf Odin in den Sinn kam: dass er ihn nicht leiden mochte.

Definitiv, absolut und ganz und gar nicht!

'Wenn es sowas wie einen Wettbewerb für den schlechtesten Vater aller Zeiten geben würde, hätte Odin die absolut besten Chancen, als strahlender Sieger daraus hervor zu gehen!' dachte Stark zynisch.

Ein unglaublich lautes Donnern, gefolgt von Getöse und ängstlichen, schreckerfüllten Schreien riss ihn dann allerdings schlagartig aus seinen Gedanken. Zusammen mit Thor und den drei Kriegern hastete er ans Fenster – und wäre beinahe wieder nach hinten getaumelt.

Der Ostflügel des grossen Palastes war weggesprengt worden. Da, wo einst prächtige Säulengänge gestanden hatten, war nur noch Feuer und Rauch zu sehen... und dahinter gähnende Leere.

Hela griff wieder an!




Loki konnte nicht verhindern, dass er zu zittern begann, als Diandre eintrat. Er atmete tief durch und presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie nur noch einen schmalen Strich bildeten – aber so schaffte er es wenigstens, das Zittern nicht sichtbar werden zu lassen.

Denn die Erinnerung an das letzte Mal, als er Diandre gesehen hatte, war noch frisch... Damals, nachdem man endlich aufgehört hatte, ihn mit dieser grässlichen Peitsche zu traktieren, war sie wie Unzählige andere auch zu ihm gekommen, um ihn zu verspotten. Sie hatte ihn angespuckt und ihn lachend gefragt, ob er sich jetzt immer noch so sehr über sie erhaben dünkte. Und ob er immer noch auf sie herabsehen würde, wo doch im Moment gerade sie auf ihn hinuntersah (da man ihn ja schliesslich auf den Knien an das Foltergerüst gebunden hatte)?

Nein, er war alles andere als sonderlich scharf darauf, sie wieder zu sehen. Angespannt wartete er auf das, was kommen mochte.

Doch womit auch immer er gerechnet hatte: damit, dass sie ihn anflehte, Asgard zu retten, bestimmt nicht!

«Herr, Ich bin hier, um sie zu holen» begann sie ohne Umschweife, «Bitte kommen sie mit... bitte vertrauen sie mir. Und bitte...» Ihre Stimme wurde leiser, aber noch beschwörender, «...bitte helfen sie uns! Sie sind der einzige, der es kann.»

In Loki kämpften sehr widerstrebende Gefühle, doch sein Sarkasmus siegte mal wieder. «Diandre, du meine Güte... entweder bist du betrunken oder verrückt!»

«Herr, bitte...» begann sie von neuem und ergriff seine Hände. Sie war ausser sich und schien kaum zu wissen, was sie tat. «Ich war dabei, als Lady Sif die Prophezeiung fand. Sie hat sie vor lauter Verwirrung und Überraschung laut vorgelesen. Und da habe ich mich an etwas erinnert... Aber das erkläre ich ihnen auf dem Weg. Bitte, bitte, sie müssen mit mir mitkommen.»

Loki konnte sich nicht mehr zurückhalten. In der Erwartung, ein offensichtlich falsches Spiel gleich aufdecken zu können, drang er in Diandres Bewusstsein ein... Und erstarrte. Sie meinte es ernst! Und nicht nur das: da draussen tobte allem Anschein nach gerade das reinste Inferno.

Er brauchte keine weitere Sekunde mehr, um seine Entscheidung zu fällen. «Ich komme mit, Diandre.» sagte er entschlossen. «Allerdings wirst du mir folgen... nicht umgekehrt.»

Sie zuckte zusammen, doch noch ehe sie erneut sprechen konnte, hatte Loki sie bereits an der Hand genommen und aus dem Kerker geführt.

Und noch bevor sie die oberen Stockwerke erreichten, drang der Lärm des erneuten Angriffs von Hela und ihren Kriegern an ihr Ohr. Den Geräuschen nach zu urteilen waren Loki und Diandre geradewegs auf dem Weg in die Hölle.

Loki: Versklavt!Where stories live. Discover now