Wie Schafe auf der Schlachtbank

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Heimdall sah Hela kommen und wusste, dass es sein sicherer Tod wäre, wenn er beim Bifröst ausharren würde. Andererseits war es seine Pflicht, den Posten nicht zu verlassen. Er kämpfte mit sich, beschloss dann aber, dass er Asgard weitaus mehr nützte, wenn er am Leben blieb.

Zudem: ohne das Schwert des Wächters konnte Hela den Bifröst sowieso nicht benutzen.

Er stahl sich gerade noch rechtzeitig davon, ehe die Göttin des Todes ihn bemerkte. Unterwegs liefen ihm mehrere Flüchtlinge in die Arme: Heimdall beruhigte die aufgewühlten Leute und leitete sie aus der Stadt hinaus in Richtung Berge. Es gab vereinzelte Höhlen dort. Da würden sie Unterschlupf finden. Sobald er sicher sein konnte, dass seine Schützlinge gut versteckt waren, hastete er so schnell er konnte zur Stadt zurück. Er wollte an Odins und Thors Seite kämpfen – wenn nötig bis zum bitteren Ende.

Er schaffte es bis zum Abhang, der am Westflügel der grossen Stadtmauer lag. Dort sah er das riesige Heer, das gerade dabei war, durch die grösstenteils eingestürzten Mauern in die Stadt einzudringen. Der Anblick versetzte Heimdall einen Schrecken.

Doch dann bekam er gleich einen noch weitaus grösseren Schock: hinter dem Heer wurde auf einmal ein riesiger schwarzer Wolf sichtbar. Die reinste Bestie! Sofort war Heimdall klar, dass dieses Biest Helas gefährlichste Waffe war.

Wenn es ihm gelang, den Wolf zu erledigen, wäre vielleicht doch noch nicht alles verloren.

Der Wächter nahm einen Schleichweg und schaffte es, relativ nahe an den Wolf heranzukommen. Dieser hatte aufgrund seiner Grösse Mühe, auf den teilweise sehr engen, unebenen Pfaden nach oben zur erhöht gelegenen Stadt vorwärts zu kommen. Es gelang Heimdall daher, ihn von der Seite her einzuholen. Doch gerade als er dabei war, sich eine geeignete Angriffsfläche zu suchen, verhielt das Tier plötzlich mitten im Schritt und begann zu schnuppern.

Heimdall erstarrte. Hatte der Wolf ihn gerochen? Natürlich, er war ein Narr gewesen. In seiner Aufregung hatte er das nicht bedacht.

Der Wächter hob sein riesiges Schwert, bereit, zuzuschlagen. Der Wolf hatte ihn tatsächlich bemerkt und trottete nun auf ihn zu. Seltsamerweise tat er es ganz langsam und fast so, als ob er...

...abwägen würde, was er tun sollte!

Heimdall wollte schon über sich selbst den Kopf schütteln, als der Wolf sich vor seinen Augen urplötzlich zu verwandeln begann.

Wenige Sekunden später stand Loki vor ihm!

«Gilt das Schwert mir oder Fenrir?» fragte der Magier mit einem ironischen Lächeln. «Ich hoffe, dem Wolf.»

«Loki... Ich habe dich auf einmal nicht mehr in der Stadt sehen können!» Heimdall liess die Waffe noch nicht sinken. «Und da war ich mir sicher,  du wärst...»

«...zum Feind übergelaufen?» half ihm Loki weiter.

Der Wächter kniff die Augen zusammen und nickte. «Ja.»

Loki stiess einen leisen, leicht genervten Seufzer aus. «Heimdall: glaubst du ernsthaft, ich würde als Wolf herumlaufen, wenn ich an Helas Seite kämpfen würde?»

Heimdall war noch nicht überzeugt. «Was ist das für ein Tier?»

«Helas Schosshündchen. Eigentlich...» Lokis grinste wieder. «Der echte Fenrir ist tot.»

«Und was hast du vor?»

«Keine Zeit zu verlieren. Weshalb ich mich jetzt auch nicht mehr weiter mit dir unterhalten kann. Nur soviel: versuch, mir zu vertrauen!» Ehe er sich zurück verwandelte, fügte er noch hinzu: «Du hast doch gehofft, dass ich wissen würde, was zu tun ist. Nun, ich weiss es tatsächlich, Heimdall.»

Da nickte der Wächter und liess ihn gehen. Notgedrungen – denn wenn er schon gegen den Wolf wenig Chancen gehabt hatte: gegen Loki besass er überhaupt keine.

Aber er hoffte von ganzem Herzen, dass er sich nicht irrte. Dass er dem Magier nicht grundlos glaubte.

Denn so sehr er sich auch dagegen sträubte: er tat es.




Helas riesiges Heer war jetzt überall in der Stadt. Die wenigen asgardianischen Krieger, die Odin und Thor noch geblieben waren, hatten Stellung bezogen. Sie waren bereit, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen.

Sonderbarerweise benahm sich dieses neue Heer der Göttin des Todes ganz anders als die vorherigen. Ruhig und ohne irgendwelche weiteren Verwüstungen anzurichten, schritten die Soldaten Richtung Palast. Auch hielt kein einziger von ihnen die Waffe in der Hand.

«Merkwürdig...» murmelte Iron Man, der zusammen mit Odin, Thor und den Grossen Drei sowie Lady Sif an vorderster Front stand. «Die benehmen sich ja ziemlich gesittet.»

«Das wird sich mit Sicherheit gleich ändern.» erwiderte Thor bitter. Er hob den Hammer und hielt ihn gegen den Himmel. Blitze begannen, sich zu formieren, und sobald die ersten Krieger Helas nahe genug heran waren, schlug er zu. Ein ganzer Hagel von Blitzen traf die vordersten Kämpfer und liess sie augenblicklich tot zu Boden sinken.

Nun würde die Horde geschlossen angreifen, das war klar. Schon glaubten die Asgardianer, wieder das bestialische, wilde Kriegsgeheul dieser unheimlichen Kämpfer zu hören. Aber...

...es blieb still!

Ja: die nachfolgenden Soldaten standen auf einmal alle stocksteif da und bewegten sich nicht. Noch immer griff keiner von ihnen zur Waffe, und noch immer blieben sie absolut stumm.

«Was zum Henker..?» flüsterte Fandral.

«Nutzen wir die Gunst der Stunde!» gab Thor zurück, «Ehe ihnen wieder einfällt, dass sie eigentlich zum Kämpfen hier sind!»

Er hob die Hand und gab das Zeichen zum Angriff.




Hela kniff die Augen zusammen: was war denn da los? Ihre Krieger benahmen sich völlig fremd. Sie hätten mit lautem Gebrüll und mit wilder Zerstörungswut der Stadt den Todesstoss versetzen sollen... Doch nun benahmen sie sich beinahe wie Schafe.

Und zwar wie Schafe, die zur Schlachtbank geführt wurden!

Mit einem lauten Wutschrei verliess die Göttin des Todes ihren Beobachtungsposten beim Bifröst und rannte zur Stadt hinüber. Was immer da los war: sie würde ihren Kriegern jetzt Beine machen.

Wenigstens hatte Loki Fenrir losgelassen. Sie konnte den Wolf auch schon kommen sehen... Gut: selbst wenn all ihre Krieger versagen sollten, war Fenrir alleine doch stark genug, um ihr den Sieg zu bringen.

Trotzdem zerbrach sie sich den ganzen Weg bis zu den Stadttoren den Kopf darüber, was mit ihren Leuten passiert war, dass sie so passiv blieben. Fast kam es ihr vor, als stünden sie unter einer Art...

...Bann!

Auf einmal durchzuckte es Hela siedendheiss. Ein Bann... Loki?

Aber nein, das konnte nicht sein. Loki hatte wie vereinbart den Wolf befreit, er war auf ihrer Seite.

Es musste Odin sein. Der verhasste Allvater musste einen Weg gefunden haben, ihre Krieger zu verzaubern.

Hela stiess einen weiteren Schrei aus und schwor sich, den König von Asgard auch dafür büssen zu lassen. Er würde sich wünschen, niemals geboren worden zu sein, sobald er in ihrer Gewalt war. Sie würde ihn auseinander nehmen, Stück für Stück. Und das Schauspiel zusammen mit Loki geniessen!

In all ihrem Hass und ihrer wilden Aufregung bemerkte sie gar nicht, dass Loki selbst nirgends zu sehen war...

Loki: Versklavt!Where stories live. Discover now