Fenrir

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Das laute Brüllen und Heulen war schon von Weitem zu hören. Loki tat so, als wäre er überrascht und neugierig. «Hela, mir scheint, du hast da noch eine Überraschung für mich?»

Seine Schwester nickte und winkte ihm, ihr zu folgen. «Ja, komm, ich zeige dir meinen kleinen Liebling.» Sie führte ihn durch ein Gewirr von Dickicht und Abhängen hinunter zu einer Höhle, deren Eingang halbwegs von schwerem Gestein verbarrikadiert war. «Ich musste meinen Augapfel leider hier drin einschliessen.» erklärte Hela betrübt. «Er ist so wild und versessen darauf, gutes asgardianisches Fleisch zu fressen, dass er sofort in die Stadt gestürmt wäre, wenn ich ihn frei hätte laufen lassen.» Sie lachte. «Aber nun ist es bald Zeit, ihm zu geben, wonach ihn verlangt.»

«Hela, das ist ja einfach wunderbar!» Loki stiess einen entzückten Laut aus und ging näher an die Höhle heran.

«Vorsicht!» rief Hela. «Fenrir gehorcht nur mir

«Mag schon sein, liebe Schwester.» Loki schenkte ihr ein hintergründiges Lächeln. «Aber mir wird er garantiert nichts tun.»

Da war sich die Göttin des Todes nicht so ganz sicher, aber sie beschloss, es mal darauf ankommen zu lassen. Im Notfall konnte sie immer noch eingreifen. Aber wenn Loki es tatsächlich hin bekam, den Wolf auf Abstand zu halten... Ihr schwindelte einen Moment. Dann würde sie den Magier zweifellos noch mehr bewundern!

Sie ging zur Seite der Höhe und betätigte einen verborgenen Mechanismus, der einen Teil des schweren Gesteins vor dem Eingang sofort wegrollen liess. Gross genug, dass der Mann durch die Öffnung passte, aber noch zu klein für Fenrir. Loki grinste in sich hinein: er hätte die Steine auch ohne Helas Zutun von der Stelle bewegen können.

Aber das war noch so etwas, das sie nicht zu wissen brauchte...

Der Wolf knurrte bedrohlich, als Loki näher kam, verhielt sich jedoch abwartend. Mit einer raschen, unbemerkten Handbewegung erschuf der Magier eine Illusion von sich, die vor Fenrir stehen blieb und leise und beruhigend auf ihn einsprach. Sein eigentliches Selbst verschwand in derselben Sekunde in Gestalt eines winzigen Insekts und schwirrte davon in den hinteren Bereich der Höhle.

Der Wolf blieb ruhig, und Hela staunte. Loki hatte ihn tatsächlich im Griff! Dieser Adoptivbruder war ihrer weitaus mehr würdig als der blonde Trottel, mit dem sie blutsverwandt war. Und als ihre fassungslosen Augen mitansehen durften, dass es Loki sogar gelang, den riesigen Wolf zu streicheln, war es definitiv um Hela geschehen...

Ja, sie würden ein wunderbares Paar abgeben als Asgards neue Herrscher. Sie beabsichtigte nun definitiv, einen Grossteil ihrer Macht mit Loki zu teilen – er würde ihr eine wertvolle Hilfe sein.

«Wann hast du vor, ihn auf unsere lieben Untertanen los zu lassen?» Lokis Frage holte Hela aus ihren Überlegungen. Sie lachte auf. «So bald als möglich. Genau genommen: kurz nach dem erfolgten Angriff meiner letzten Einheit.»

«Ich hoffe nur, Fenrir lässt noch ein paar Asgardianer übrig, damit du am Ende noch irgendwelche Leute zum Beherrschen hast.»

«Wir, mein Lieber!» Hela schmunzelte ihm zu. «Du wirst an meiner Seite herrschen. Und keine Angst: sobald ich Fenrir zurückpfeife, wird er kommen.»

«Ach ja? Eben sagtest du noch, sein Blutdurst wäre unstillbar.» Loki kannte natürlich die Antwort bereits, aber er hatte ja schliesslich eine Rolle zu spielen.

«Es wird leider unumgänglich sein, meinen Liebling für längere Zeit ins Land der Träume zu schicken, wenn er seine Aufgabe erfüllt hat. Aber keine Angst: erst lasse ich ihm genug zum Fressen, sodass er sich nicht beschweren kann!»

Hela besass eine Steuerung, die mit dem Halsband, das Fenrir trug, verlinkt war. Wenn sie den Mechanismus aktivierte, wurde ein Nervengas freigesetzt, das den Wolf augenblicklich lähmen und für längere Zeit in einem komaähnlichen Zustand belassen würde.

Zumindest war es das, was Hela glaubte.

Noch!

Gemeinsam gingen Loki und die Göttin des Todes zurück zum Heer, während der Wolf, der nun deutlich die Freiheit witterte, kaum noch zu bändigen war.

Ein letzter Befehl, dann schickte Hela ihr Heer in die Schlacht. Die Horden setzten sich umgehend in Bewegung: ihre Zahl war derart gewaltig, dass Asgard nach diesem Gefecht endgültig erledigt sein würde.

Hela wies auf die Kuppel des Bifröst und sagte: «Ich werde den Kampf von da aus beobachten. Allerdings muss ich leider noch etwa ein Stündchen warten, damit ich Fenrir vorher noch freilassen kann. Aber danach.... Wirst du mich begleiten?»

Lokis Lächeln war zuckersüss. «Wie wär's, wenn du dir das Vergnügen sofort gönnst und ich den Wolf nachher freilasse? Ich habe den Mechanismus ja jetzt gesehen.»

Ihr Herz tat einen Sprung. «Das würdest du für mich tun?»

«Du hast dir diesen Triumph verdient. Den VOLLEN Triumph! Ich komme nach, sobald dein kleiner Liebling frei gelassen ist.»

Hela warf ihm eine Kusshand zu und machte sich auf Richtung Bifröst.

Loki konnte nur hoffen, dass Heimdall so klug war, wie er ihn immer eingeschätzt hatte. Dass er das Weite suchen würde, sobald er Hela kommen sah, im Wissen, dass er ihr nichts entgegen setzen konnte.

Doch auch das war etwas, das nicht in seiner Hand lag...

Genau so wie Tony Stark. Loki wusste, dass es völlig sinnlos war, und doch formulierte er in Gedanken immer wieder ein und denselben Satz: «Vertrauen sie mir, Stark! Bitte! Wenigstens noch ein winziges bischen länger. Ich werde tun, wozu Thor mich hergebracht hat... Wenn sie mich lassen!»

Es war idiotisch, denn er konnte Stark nicht erreichen. Selbst wenn er seine eigenen Gedanken nicht nur durch direkten Körperkontakt an jemanden hätte übermitteln können: die Distanz zu Iron Man war in jedem Fall viel zu gross. Aber da er nun mal nicht die Fähigkeit besass, anderen sein eigenes Inneres ohne direkte Berührung zu offenbaren, war es definitiv schlicht dämlich, dass er nicht aufhören konnte, diese Sätze in seinem Gehirn zu wiederholen.

Aber ob dumm oder nicht... Er tat es dennoch.

Sobald Hela und ihr Heer ausser Sichtweite waren, löste Loki seine Illusion auf. Sein eigentliches Ich hatte die Höhle, in der Fenrir lag, nicht verlassen. Jetzt, wo er sicher sein konnte, dass keiner ihn beobachtete, verwandelte sich Loki vom Insekt zurück in einen Mann. Der Wolf hörte ihn kommen, doch der Magier hatte keine Schwierigkeiten, das Tier mit seiner Stimme einzulullen. «Ganz ruhig, mein Kleiner,» sagte er lächelnd. Dann hob er seine rechte Hand und tötete den riesigen Wolf mit einem einzigen Energiestoss. Anschliessend verliess er die Höhle und schüttete den Eingang komplett zu, sodass niemand vor der Zeit das tote Tier darin entdeckte.

Ein letzter Blick zurück, dann huschte Loki davon Richtung Stadt.

Auf vier Pfoten...

Loki: Versklavt!Where stories live. Discover now