„Stell dir vor, du weißt nicht, ob du in der Nacht durchschlafen kannst und das geht dir jede Nacht so. Manchmal sind wir mit Klamotten ins Bett gegangen und jeder hatte immer einen kleinen Beutel mit den wichtigsten Dingen bei sich, für den Fall, dass die Deutschen in der Nacht einen Luftangriff fliegen. Nie wusste man, wann der Alarm losging und war ständig auf der Hut. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir alle stundenlang in den Bunkern gesessen haben. Nicht wissend, was über uns passiert. Entspannen konnte man sich eigentlich nie wirklich. Und wenn man mal eine Nacht geschlafen hatte, dann konnte es sein, dass es morgens kein Brot mehr gab, weil die Schiffe mit den notwendigen Nahrungslieferungen versenkt worden waren. Man wusste nie, ob man noch genug zu essen bekam...das, was ihr hier habt; eine Küche, in der es immer Nahrung gibt, einen Supermarkt, in dem ihr auswählen könnt, was ihr wollt...das ist der pure Luxus. Ich war nicht gleich von Anfang an dabei. Als England Deutschland letztes Jahr – ich meine natürlich 1939 - den Krieg erklärt hat, war ich noch 17 und zu jung. In die Army darf man erst mit 18. Deswegen habe ich noch eine Zeit lang den Krieg als Zivilist miterlebt." Harry schluckte und blinzelte, dann sagte er mit erstickter Stimme, die so plötzlich kam, dass es Louis richtig überraschte: „Ich glaube, ich hätte mich nie freiwillig gemeldet, aber als es dann die Deutschen die SS Athenia versenkt haben...mein großer Bruder war auf diesem Schiff als Matrose und er war unter den Toten...da wusste ich, wo mein Platz sein wird..." Harry brach ab, versuchte sich irgendwie zu sammeln, doch es gelang ihm kaum.
Vielleicht hatte er diese Gefühle zu lange unterdrückt, weil er vor seiner Familie hatte stark sein wollen, doch jetzt brachen sie aus ihm heraus und seine Augen füllten sich mit Tränen.
Auch, wenn es dunkel war, konnte Louis es deutlich sehen, denn das wenige Licht, das von einigen Lampen draußen zu ihnen hereinfiel, glänzte auf dem Tränenschleier deutlich genug.
„Entschuldige." Harry wischte sich über die Augen, schniefte und verzog gleichzeitig das Gesicht vor Schmerzen.
„Es tut mir leid, dass du deinen Bruder verloren hast", sagte Louis leise und streckte den Arm aus, um dem Soldaten, der jetzt plötzlich einfach nur noch ein junger Mann zu sein schien, über den Arm zu streichen. Harry zuckte dieses Mal nicht zurück, sondern versuchte, seinen Atem wieder ruhiger zu bekommen, blinzelte mehrmals und sagte dann leise: „Es ist so schlimm, wenn man nach Hause kommt und erfahren muss, dass dein Bruder nicht mehr wieder kommt. Man hat es uns nicht einmal persönlich gesagt, sondern lediglich einen Brief geschickt und mein Vater weiß es vermutlich noch nicht mal. Er war nämlich zu der Zeit schon im Einsatz und wir wissen nicht, ob er unsere Nachricht überhaupt bekommen hat."
Also war Harrys Vater auch Soldat.
Vielleicht lebte er schon gar nicht mehr und sein Sohn wusste gar nicht, dass er eigentlich schon Halbwaise war. Der Gedanke zog und zerrte unangenehm in Louis' Magengegend und er biss sich auf die Lippen.
Wie gut sie es heutzutage doch hatten.
„Willst du wieder ins Bett?", fragte er leise und Harry schüttelte den Kopf.
„Nein, ich kann jetzt sowieso nicht schlafen. Wenn du müde bist, kannst du dich hinlegen. Ich bleibe einfach hier sitzen."
Noch einmal wechselte er Harry die kalten Wadenwickel, dann krabbelte er zurück in sein Bett und schloss die Augen.
Der Regen prasselte weiter vom Himmel und sorgte für ein gleichmäßiges Rauschen. Ab und zu hörte er Harry seufzen, wollte aber nicht darauf eingehen. Manchmal brauchte man einfach einen Moment für sich allein.
Doch irgendwann wurde aus dem Seufzen ein Schniefen und ein leises Weinen und Louis wäre ein Dummkopf gewesen, wenn er das einfach ignoriert hätte.
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Airspeed Oxford
ФанфикDie Nacht ist nicht jedermanns Sache. Louis fühlt sich im Dunkeln allerdings ganz wohl, denn da stört ihn niemand. Er ist ganz allein, als er sich in seiner Nachtschicht im Museum gemütlich in eines der alten Flugzeuge aus den 40er Jahren setzt. De...