1- Der Anfang

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6 Stunden zuvor

"Vic! Es ist schon nach 4!"
Victor Beres riss die Augen auf. Sein Schlaf war tief gewesen, und er war unsanft geweckt worden. "Spinnst du?", brummte er und zog missmutig das Buch von seiner Brust. "Bücher wirft man nicht.", fügte er dann hinzu und rieb sich über das stoppellige Kinn. Es hörte sich an, als streiche er mit einem Holzstück über Schmirgelpapier.
"Is' klar. Als hättest du in den letzten 10 Jahren ein Buch gelesen.", schnaubte Alice, die in der Tür stand und sich die Jacke überzog. Sie war sehr viel dünner, als sie sein sollte und trug weite Kleidung, um davon abzulenken, dass sie wieder abgenommen hatte. Victor lachte halbherzig und setzte sich auf. "Du vergisst, dass ich mal das Abitur versucht habe. Ist erst 4 Jahre her!", erinnerte er sie. Alice verdrehte die Augen und warf erneut einen Gegenstand in seine Richtung, doch diesmal gelang es ihm, die Zigarettenschachtel zu fangen. "Hab' mir ein paar geborgt. Du wolltest sowieso aufhören. Also, wir sehen uns später!"
Sie trug High Heels. Das Klackern auf dem alten, knarzenden Holzboden im Flur war nicht zu überhören.
Dann fiel die Tür ins Schloss.

Victor ließ sich wieder zurück in sein muffiges Kissen fallen. Sein Zimmer war spärlich mit einigen alten Möbeln eingerichtet; ein Bett, ein Nachttisch, ein älterer Stuhl. Die Wände waren grau und kahl, die Lampe bestand aus einer angeschlossenen Glühbirne, die durch einige lockere Knoten in ihrem Kabel nahe an der  Decke baumelte. Viele Klamotten besaß er auch nicht, sodass es ihm reichte, ein Mal die Woche in den Waschsalon auf der anderen Seite der Straße zu gehen und den kleinen Haufen in der dunklen Ecke seines Zimmers zu waschen.

"Verdammt Alice. Nur ein Mal...", brummte Victor vor sich hin, als er kurze Zeit später in der Küche nicht mal Kaffee vorfand. Das Geschirr hatte sie gespült, und ein paar Brötchen aufgebacken, doch für einen einfachen Kaffee hatte es wohl nicht gereicht. Er hustete von der Zigarette und begutachtete sie einige Sekunden, bevor er den nächsten Zug nahm. "Ich war nah dran...", lobte er sich selbst. Drei Wochen, und gestern Nacht war er weich geworden. Aber die Packung war schon beinahe leer. "Na gut, wann starten wir den nächsten Versuch?" Er sah auf den Kalender um irgendeinen Feiertag zu suchen, an dem er wieder mit dem Abgewöhnen anfangen konnte, doch stattdessen bemerkte er, dass er heute Frühschicht hatte. Plötzlich in Eile drückte er die Zigarette in der Spüle aus.
"Scheiße."

Der Blick auf die Uhr war ihm keine Hilfe, er hätte schon vor zehn Minuten da sein müssen, und so suchte er sich eilig einige Klamotten zusammen, zwängte sich in die enge Dusche, rasierte sich, putzte seine Zähne, zog sich an, schnappte sich ein trockenes Brötchen für den Weg und verließ dann mit Schlüssel und Jacke in der Hand die kleine Wohnung, die Alice und er seit Anfang des Jahres gemeinsam mieteten.

Zuerst war es nur eine Notlösung gewesen, um seinen Lebensstil vor seinen Eltern verstecken zu können, doch inzwischen hatten sie beide der Wohnung etwas Charme abgewinnen können. Es war schließlich das erste Eigenheim der Beres Geschwister und da Alice nicht weit entfernt studierte, hatten sich die kalten 70 m²  schnell in einen belebten, geselligen Ort verwandelt. Für Alice zumindest.
Sie hatte alle Räume eingerichtet und dekoriert, außer Victors, der nicht viel davon hielt, es sich irgendwo gemütlich zu machen. Er lebte in dem Club, in dem er arbeitete, und verbrachte beinahe alle Nächte in anderen Betten. Alice wusste, womit er sich seinen Teil der Miete verdiente, doch sie legte viel Wert darauf, das Thema zu umgehen. Vielleicht auch, weil sie es eklig fand.

Aber er war kein Prostituierter. Er wurde dafür bezahlt, gut auszusehen und leichtbekleidet zu tanzen, was etwas völlig anderes war. Aber selbst Victor war klar, was für einen Ruf Stripper hatten.

"Victor! Was soll das? Du sollst pünktlich sein, verdammt!", rief Joe, der Clubinhaber ihm entgegen, als er zum Personaleingang kam. "Und du sollst mir keine Frühschicht nach einer Spätschicht eintragen.", entgegnete Victor grinsend und zeigte sich trotzdem entschuldigend. Joe schüttelte den Kopf. "So eine riesen Klappe. Und ich dachte, ihr Jünglinge hättet ein wenig Respekt vor dem Alter!"
Victor lachte ein wenig und sagte im Vorbeigehen: "56. Du bist 56 und nicht 90!"

Der Club war noch nicht voll, und nachdem Victor sich umgezogen (ausgezogen) hatte, ließ er den anderen den Vortritt auf der Bühne und gesellte sich zu den Kellnern. Das war sein liebster Zeitvertreib zwischen seinen Auftritten: das Bedienen der Kundschaft. Dabei ließ sich nämlich hervorragend eine Marktanalyse der Singles in seinem Alter herstellen, und er konnte erste Kontakte pflegen. Durch einen Drink kam man immer gut ins Gespräch.

Heute war ihm eine junge Frau aufgefallen, und ihm war nach weiblichen Rundungen und dem südländischen Temperament, das sie ausstrahlte. Er schnappte sich zwei Shotgläser voller pinkem Hochprozentigem und steuerte sein Ziel an. "Na, alleine hier?" Er hielt ihr ein Glas entgegen. Prüfend ließ sie ihren Blick über seinen Körper schweifen, nicht abwertend, aber auch nicht sonderlich interessiert. Sie war groß und wunderschön, hatte die dunklen Haare offen und lockig, und ihr Top verriet viel über das, was darunter lag. "Nein,", antwortete sie dann akzentfrei und kippte den Shot herunter, bevor Victor noch etwas hatte sagen können, " mit meinem Freund. Aber du kannst dich gerne zu uns gesellen, wenn du willst."

Nun musterte er sie.  "Sehr gerne." Interessant. Er schluckte den Inhalt seines Gläschens in einem Zug und ging, um nochmal eine Runde zu holen.

Ihr Name war Samantha; sie hatte spanische Wurzeln,  sprach die Sprache aber nicht, und liebte es, Getränke in ihrem Bauchnabel zu servieren. Victor fand sie unglaublich sexy.
Ihr Freund hieß Jack und arbeitete in einem Fitnessstudio. Er war zwar trainiert, aber nicht so sehr, dass Vic zu schmächtig wirkte. Ihn fand Victor unglaublich heiß.

Nach einiger Zeit hatte er seine drei Shows auf der Hauptbühne beendet und kehrte zurück in das Publikum, um nach Jack und Samantha zu suchen. Sie  standen vor der Tür, es war kalt und schon nach 11, und rauchten. Victor rauchte mit. "Wir wohnen nur 3 Minuten entfernt.", sagte Jack und tauschte einen hungrigen Blick mit seiner Freundin. Victor klemmte grinsend die Zigarette in seinen Mundwinkel und suchte in seiner Jackentasche nach einem Feuerzeug. Als er es gefunden hatte, zündete er zügig seine Zigarette an, saugte eine geballte Ladung ein und stieß den Rauch bedächtig aus. "Ich bin dabei.", sagte er dann.
Zuerst küsste Jack ihn, das war rau und wild, dann küsste er Samantha, die ganz anders war, viel weicher und verlangender, und so wusste er, auf was er sich eingelassen hatte und freute sich auf den Sex.

Er kam erst nach Mitternacht nach Hause.

Alice war noch auf, sie zählte die Post im Wohnzimmer, die sie jeden Tag aufs neue zählte, als würde irgendwann etwas Überraschendes passieren; als spränge sie irgendwann begeistert auf, voller Freude "Es sind 7!" schreiend. Victor glaubte, dass es eine unruhige Angewohnheit war, aber er kümmerte sich nicht darum. Nicht heute, wo er, durchgefickt und ausgelaugt wie er war, nur noch ins Bett wollte.
"Ich hab' dich früher erwartet.", zischte Alice ungemütlich und drückte ihre Kippe in ihr leeres Glas. "Sorry."
Sie sah auf. Seine Haare waren verwuschelt, sein Hals rot und mit einigen Flecken übersäht, seine Lippen geschwollen. Außerdem war da dieser Ausdruck auf seinem Gesicht, als gehöre ihm die Welt. Missbilligend schob sie den Poststapel von ihrem Schoß. "Du fängst dir noch Aids ein.", reizte sie. Er sah nicht mal auf. "Das ist HIV."
"Das Selbe."
"Ich bin negativ." Natürlich ließ er sich regelmäßig testen, er war ja nicht bescheuert.
"Und ich weiß, wie man verhütet."
Sie schnaubte. Es war nicht das größte Problem, dass er es mit Typen trieb (aber auch nicht das kleinste). Aber dieses ständige Rumvögeln ging ihr gegen den Strich.
"Wie wäre es mal mit was festem?"
Diesmal sah er auf und trat in den Türrahmen. Das Licht kam nun von hinter ihm aus dem Gang und verlieh seiner Silhouette damit eine unheimliche Schärfe. "Wenn ich mir sowas anhören wollen würde, würde ich noch bei Mum und Dad wohnen." Er wusste, dass sie einige Teile seines Lebens einfach ignorierte, anstatt sich damit auseinanderzusetzen. Also war es ein schönes Spiel, genau diese Teile auszureizen. 

Sie gab nach. Er drehte sich um und wollte in sein Zimmer verschwinden, doch bevor er richtig losgegangen war, murmelte er "Hab' dich lieb.", weil es die Wahrheit war und weil er Hoffnung hatte, dass sie toleranter war, als sie zugab. Und als er gerade die Zimmertür hinter sich schloss, hörte er sie "ich dich auch", sagen, weil sie es ernst meinte und sich fest vornahm, nicht wie ihre Eltern zu werden.

Als Victor sich ins Bett warf und die Decke über sich zog, spürte er ein Ziehen in seinem Nacken. Es waren nur schwache Schmerzen, er schlief ein und dachte nicht mehr daran. Und er hatte einen außergewöhnlich festen Schlaf.

The ME inside of YOU (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt