8- Der Bruder

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Victor ging stumm neben Luke her und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er den Weg zur Bushaltestelle nicht kannte. Es herrschte eine Spannung zwischen den beiden, die er nicht einordnen konnte. Normalerweise hätte er jetzt eine Zigarette geraucht, um dieses beklemmende Gefühl besser handhaben zu können und sich erfolgreicher abzulenken. So blieb ihm nur das Handy des Anderen übrig, und mit einem Auge auf dem Weg, um nicht ausversehen zu stolpern, scrollte er durch Instagram.

Ein paar Updates musste er wohl verpasst haben, aber er empfand es immer noch als genauso nervig, wie als Alice es auf ihrem gemeinsamen Handy installiert hatte. Nur war sie vielen Fashionblogs gefolgt und David schien mehr an Kunst interessiert zu sein. Auch sein Profil war voll davon. Lauter kleine Comics und Sketches von irgendwelchen Charakteren, die Victor nicht kannte. Er war beeindruckt. Zwar kannte er den Wert davon nicht, weil er nicht wusste, wie viel auf Instagram wirklich viel war,  aber über 50k Personen folgten dem Anderen. Seine Kunst kam wohl gut an.

"Willst du gar nichts sagen?"

Victor sah auf und bekam in letzter Sekunde noch mit, wie Luke nach links abzog. Schnell steckte er das Handy weg. "Äh, nein.", riet er. Luke schnaubte und kickte einen Stein vor sich her. Victor hatte das Gefühl, vielleicht doch etwas sagen zu müssen, aber er wusste nicht genau, was. Er wollte keinen Konflikt anfangen, den David dann beenden musste.

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"Du hast was??" Alice sah David völlig fassungslos an, als er ihr eröffnete, wie er  Joe am Telefon gesagt hatte, dass er nicht zur Arbeit erscheinen würde. Er wollte zeigen, dass es ihm egal war, was mit Victor passieren würde und drückte sein Kinn nach oben, obwohl seine Schultern unter dem autoritären Blick der jungen Frau bebten. "Bist du völlig bescheuert oder was?" Sie kam auf ihn zu und er konnte nicht anders, als etwas zurückweichen. "Ich werde ganz bestimmt nicht strippen!" Sie stieß ihn allein mit ihrem Blick gegen die Wand und alle Einkäufe fielen auf den Boden. Dazu hatte sie ihn überhaupt in die Stadt geschickt, um ein paar Dinge zu besorgen. Die Nummer von Joe hatte er auf einem Zettel in der Küche gesehen und kurzerhand entschieden, einen Abstecher zum Münztelefon zu machen.

"Das wäre doch nur eine Stunde gewesen du Vollidiot! Deine Schicht hätte um vier begonnen, ich hätte dich um fünf mit einer Ausrede rausgeholt und dann hättet ihr zurücktauschen können!" David verschränkte die Arme und sah weg. "Ist jetzt auch egal. Ich bleibe hier. Fertig." Erneut stieß Alice ihn an den Schultern zurück, und er verzog das Gesicht. Dann hielt sie ihm den Zeigefinger ins Gesicht. "Du hast keine Ahnung was du angerichtet hast, oder?" Mit einem Schnauben ballte sie ihre Hand zu einer Faust, entschied sich aber dann doch dagegen und ließ die Faust sinken. Einige Sekunden lang blieb es still. "Hör mal, Joe ist nicht nur ein Arbeitgeber. Er ist sowas wie ein... Onkel oder so. Er passt auf Vic auf. Und er hat Einfluss. Wenn du unsere Beziehung mit ihm kaputt machst, kann uns das unsere Wohnung kosten."

David sah sich verstohlen um. Diese Bruchbude zu verlieren könnte kaum schlimmer sein, als auf der Straße zu landen. Aber es dämmerte ihm, dass "die Wohnung verlieren" für Victor und Alice vielleicht wirklich bedeuten würde, obdachlos zu sein. Also blieb er still und machte sich daran, die Einkäufe aufzusammeln. Provokant kickte Alice eine Tomate ans andere Ende des Flurs und ging dann in das Wohnzimmer, wo sie sich an der Post zu schaffen machte.

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Luke kickte einen Stein vor sich her. "Und ihr tauscht heute Nachmittag zurück?" Victor nickte. Er hatte ihm die Wahrheit gesagt, als Luke ihn bedrängt hatte,  sich zu etwas zu äußern, von dem Victor nicht wusste, was es war. Anscheinend hätte der Andere es gewusst. Aber er ahnte, dass es mit dem Kotzbrocken zu tun hatte und hielt sich deshalb lieber heraus. "Okay.", antwortete Luke und sah zu Victor auf, fast prüfend, ob er ihn hinter Davids Gesicht vielleicht entdecken könnte. Victor lächelte ein halbes Lächeln. "Also diese Uni von deinem Bruder... was mache ich da?"
Zum ersten Mal an diesem Morgen konnte er ein Lächeln in Lukes Gesicht sehen.  "Na lernen, schätze ich. Schreib einfach alles auf, David wird schon wissen, was wichtig ist."  Victor beäugte ihn. "In welche Klasse gehst du?"
"Siebte."
Victor lachte leicht, vielleicht aus Freude, vielleicht, weil die Antwort so feindselig klang. "Was ist so witzig?", fragte Luke defensiv, aber Victor wehrte ab. "Schule ist cool.", sagte er.
"Schule ist ätzend!", kam es von dem jüngeren wie aus der Pistole geschossen zurück. "Hausaufgaben und Tests und Klassenarbeiten und dann diese dummen Jungs die dauernd auf mir herumhacken! Ich wünschte, ich müsste gar nicht hin." Dafür hatte er es aber sehr eilig gehabt, an diesem Morgen aus dem Haus zu kommen.
Victor legte ihm unbeholfen eine Hand auf die Schulter. "Lass dir nichts gefallen, okay? Du kannst dich wehren." Luke sah auf und blieb stehen, um ihn einen Moment lang anzusehen. "Du bist wirklich nicht David." Victor zuckte mit den Schultern und nahm seine Hand zurück.
Der Bus fuhr vor und die beiden beeilten sich, um ihn noch zu erwischen. Es blieb wieder still zwischen ihnen.

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"Alice?"

David hielt die Stille nicht mehr aus. Er hasste es, wenn um ihn herum keine Harmonie herrschte, für ihn musste die Welt reibungslos und harmonisch verlaufen, ohne Konflikte oder Spannungen. Noch ein Grund, warum ihn sein Zuhause verrückt gemacht hatte.
"Ich wollte nur sagen, dass ich gleich los muss.", sagte er etwas leiser gegen die geschlossene Türe von Alice' Zimmer und lehnte sich mit der starken Schulter des Anderen an den Türrahmen. Er fühlte sich miserabel. Eigentlich müsste er glücklich sein, weil er schon bald wieder in seinem eigenen Körper sein würde, aber die Situation mit Alice setzte ihm zu.   Sie war distanziert und kalt zu ihm gewesen, aber trotzdem irgendwie freundlich. Auf eine seltsame Weise war David völlig klar, welche Art von Beziehung Victor zu ihr hatte. Sie waren ein Team. Eine Art Zwei-Mann-Truppe gegen die Welt, verschanzt zwischen knarrenden Dielen, leeren Kühlschränken und tropfenden Wasserhähnen. Selbst die Spülung der Toilette musste man mehrmals drücken, um sie zu aktivieren, und wenn man den Lichtschalter zu kopflos betätigte, bekam man einen leichten Schlag ab.

"Alice?", versuchte er es erneut, und diesmal hörte er Schritte hinter der Türe. Er fasste neuen Mut. "Du musst mitkommen. Bitte." Er sah auf die Uhr. Kurz vor 4. Wenn er nicht zu spät kommen wollte, müsste er die Wohnung jetzt verlassen. Ungeduldig klopfte er gegen die Türe. "Bitte." Mit einem Ruck riss sie sie auf. "Schön. Lass uns gehen." Sie sah ihn nicht mal an, ging direkt an David vorbei zu den Schuhen und streifte sich Sneaker über. Er lächelte verstohlen, erleichtert, dass er den Stripclub nicht alleine betreten musste. Ihr Schweigen hatte ihn überzeugt, doch hin zu gehen, um den Geschwistern keine Schwierigkeiten zu machen. Schnellen Schrittes folgte er ihr zu der Wohnungstür. Sie ging zuerst durch. Bevor er die Türe aber hinter sich schloss, drehte er sich nochmal um und ließ seinen Blick für einen kurzen Moment durch den Raum schweifen.
Eigentlich hätte er erleichtert sein sollen.

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Okay, das hat ja mal ewig gedauert! Wo seid ihr alle hin?? Auf diese 40 reads haben wir jetzt fast 2 Wochen warten müssen...

Aber immerhin: hier das neue Kapitel!

Meinungen, Ideen und Kritik wie immer in die Kommentare!

AOF

The ME inside of YOU (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt