6- Der Abend

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David konnte nicht schlafen. Er hing mit den Gedanken an Victor, was er gesagt und wie er es gesagt hatte. Und er fragte sich, wie Victor wohl so war, wenn er nicht gerade überraschend in einem anderen Körper feststeckte und sich mit George rumschlagen musste. Vielleicht war er ruhig und reserviert, vielleicht aggressiv. Was, wenn er total rassistisch oder gar nationalsozialistisch war?  So wie er aussah, könnte man ihn glatt für einen Punker halten, der zu müde war, um sich Gedanken um seine Kleidung zu machen. Diese Müdigkeit steckte in der gesamten Umgebung. Die Rolläden ließen sich nicht mehr komplett öffnen, die Klamotten lagen überall herum, es gab keine Einrichtung, nur wenige nicht zusammenpassende Möbel. Der leere Kühlschrank hatte schon lange keine Reinigung mehr gesehen und der Herd schon lange keinen Topf mehr.

David fühlte sich nicht wohl, wenn er durch die Wohnung ging, also versuchte er, es zu vermeiden. Genau so, wie Alice ihn mied. Aber das war eine andere Baustelle und bald auch nicht mehr relevant. Sobald David wieder in seinem Körper wäre, würde er einfach gehen und sich nicht mal umdrehen. Es war seltsam gewesen, wie Victor ihn auf sein Leben angesprochen hatte.

"Ich verstehe, warum du weg wolltest. Kannst du nicht weglaufen wie normale Kinder?"

Das klang, als müsse David überhaupt kein schlechtes Gewissen haben, weil er seit Monaten nur noch Wege suchte, aus seinem Leben herauszukommen. Ironisch, wie er jetzt um jeden Preis versuchte, wieder rein zu gelangen. Auch wenn dort George auf ihn wartete, der irgendeinen persönlichen Frust an David ausließ, war es vielleicht doch besser, als sich mit Victors Leben rumschlagen zu müssen. Oder?

Er war sich nicht sicher. Was er zu dem Anderen gesagt hatte, das mit dem Strippen und dass es beschissen sei, war nicht so gemeint gewesen. Es war schließlich ein Job wie jeder andere, versuchte David sich klar zu machen. Und es war unschuldig. Solange man sich eben nur begaffen ließ.
Aber eigentlich hatte David dazu keine genaue Meinung. Bisher hatte er auch keinen Grund gesehen, sich eine Meinung dazu zu bilden. Es war ein Bauchgefühl gewesen:

Stripper = irgendwas mit Sex = Prostitution = oh Gott

Aber diese Schlussforlgerungen waren im Nachhinein betrachtet vielleicht zu schnell gewesen. David drehte sich auf den Rücken und starrte zur Decke. Sein Bett knarrte nicht so sehr wie Victors . Er vermisste sein Zimmer, vor allem seinen Computer und sein Grafiktablet. Das hatte er sich zu Beginn des Studiums gekauft, um besser mithalten zu können. Er studierte Animation Design an einer privaten Universität. Und so nebenher hatte er angefangen, seine Charaktere in kleinen Comics auf Instagram zu veröffentlichen. Er vermisste es. Hier hatte er nicht mal ein Handy, um nachzusehen, was der neue Post so machte, und ob nochmal Wünsche eingegangen waren.
Er kniff die Augen zu. Die Medien-Abstinenz tat ihm vermutlich gut.

Und dennoch. George hatte den Reiz der Comics in David ausgelöst, weil er unter anderem ein schwules Paar dabei hatte. Das war seine Art der Rebellion gegen dieses wüste Schimpfwort "Schwuchtel", das ihm sein allerliebster Stiefvater immer gegen den Kopf knallte. Und durch seine Follower war das schwule Pairing immer gefragter geworden (das Internet eben).

Aber was sollte das schon über Davids Sexualität aussagen? Er hatte sich in Mädchen verliebt, ausschließlich in Mädchen, und war dem ein oder anderen auch schon mal näher gekommen. Für eine Beziehung oder Sex hatte es nie gereicht, aber das musste ja nichts heißen. Die Richtige würde kommen, daran hatte David geglaubt. Doch im Moment zweifelte er alles an, sein Leben, seine Comics, seine Sexualität, eigentlich die ganze Welt. Er hatte nie gewusst, wie gut er es gehabt hatte, als er ohne diese übermäßige Reflexion leben konnte. Als er noch wusste, wer er war.

Vielleicht ein bisschen dramatisch.

Er öffnete die Augen wieder und dachte an das Aussehen, dass er gerade hatte, und wie seltsam es war, einen fremden Körper attraktiv zu finden, in dem man selber steckte. Vielleicht, dachte er sich, schränkte er sich selbst ein, indem er sich sagte, dass er nicht schwul war. Vielleicht dürfte er einfach nicht länger darüber nachdenken.  Er schloss die Augen und versuchte, alle Meinungen, die er zu dem Thema "Bin ich schwul? " gesammelt hatte, wegzusperren.

Aus seinem Unterbewusstsein tauchte ein Bild von Victor auf, wie er ihn heute Morgen im Spiegel gesehen hatte, wenn auch in eher verängstigten Körperhaltung. Er hatte das Tattoo auf dem rechten Oberschenkel fast vergessen. Ohne lange nachzudenken fasste er es an. Er hatte sich das Denken verboten. Ich kann mein Unterbewusstsein machen lassen. Das macht keine Fehler. David strich über die Stelle mit dem Tattoo und bemerkte, dass sich darunter etwas härter und knubbelig Narbengewebe befand. Wovon? Er folgte der Narbe und rutschte Richtung seiner rechten Pobacke. Dort stoppte er.
Nicht nachdenken.

Er tat, was sich richtig anfühlte: Entdecken. Es war ein völlig neuer Körper, und alles fühlte sich so komplett anders an, als in seinem eigenen. David fühlte sich, als wäre er wieder 14. Nur diesmal fasste er alles an, und nicht nur diese eine bestimmte Stelle. Um die drückte er sich heute und fuhr lieber über Victors Brust, zu seinem Bauch, an den Seiten entlang zum Hintern. Er drückte ihn und fragte sich, wie sich Victors Hände auf seinem eigenen Körper anfühlen würden.

Stopp.

Er gefror in der Bewegung. Denken oder nicht? Er schloss die Augen. Mental zitterte er.

Es ist nichts Falsches dabei.

Also schaltete er seinen Kopf wieder aus und drückte noch einmal zu. Schließlich wurde er neugierig. Er ließ seine Hande zwischen seine Schenkel fahren und streifte unter die Boxershorts.
Es würde sich sicherlich anders anfühlen, oder nicht?
Das war nur Interesse, nichts weiter, richtig?

Er ärgerte sich, dass er schon wieder mit Denken begonnen hatte und schob eine Hand unter den Stoff. Victors war ganz anders als seiner. Er fühlte sich anders an, als er hart wurde, und als er kam, zitterte er nicht wie sonst, sondern spannte sich an.

Als er kurz darauf nach Atem rang, schaltete sich sein Kopf wieder ein und mit einem Mal schoss ihm die Schamesröte ins Gesicht.
Schnell zog er die Hand aus der Boxershorts und betete stumm, dass das Sperma schnell trocknen würde.

Er wollte nicht darüber nachdenken, was das jetzt für seine Sexualität bedeutete. Oder für seinen Bezug zu Victor.

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*grins* eins meiner Lieblingskapitel :)

Findet ihr 40 Reads von der Wartezeit her zu lange oder passt das?

Meinungen, Anregungen, Idee und Kritik wie immer in die Kommentare :)

AOF

PS: Was ist bisher so eure Lieblingssicht? Aus Victors POV oder aus Davids? :)

The ME inside of YOU (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt