7- Das Gewissen

204 17 0
                                    

Victor genoss es, sich in dem Körper des Anderen einen runterzuholen. Er vermisste es manchmal, eine Jungfrau zu sein. Über sein erstes Mal wollte er nicht nachdenken.
Als er gekommen war, setzte er sich auf und suchte in Davids Nachttisch nach Tempos. Er fand zwei Packungen und Bodylotion. Er grinste.

Die Sonne war gerade erst aufgegangen und Victor stellte fest, dass es etwas Angenehmes hatte, so früh aufzustehen und die ersten Sonnenstrahlen mitzuerleben. Auch war es in dieser Gegend viel stiller als in der Stadtmitte, was seine gute Laune zusätzlich begünstigte. Es war friedlich.
Er nahm sich Zeit bei der Klamottenauswahl, entschied sich für eine Jeans und einen hellen Pullover und fand, dass er aussah wie ein Engel. Die Locken, der fliederfarbene Pullover, die helle Jeans. Irgendwie putzig. Der Andere hätte das sicher nicht so kombiniert, aber Victor mochte die Ironie, die er darin sah, und er mochte es, eine Rolle zu kreieren.

Am Frühstückstisch warf er zum ersten Mal einen Blick in das Smartphone von David. Seit Alice' und seines ihm vor einem halben Jahr gestohlen worden war, hatte Victor keins mehr in den Händen gehabt. Das von David fühlte sich neu und hochwertig an, als hätte es viel Geld gekostet. Verstohlen warf er einen Blick auf die Umgebung. Ein typisches Mittelklasse-Haus. Interessant.

Für eine Sekunde dachte er, dass der Fingerabdrucksensor ihn entlarven würde, doch natürlich entsperrt sich das Telefon nach einem Bruchteil einer Sekunde. Der Hintergrund war bunt. Eine Comicfigur vor einem einfarbigen Hintergrund. Victor hatte viele solche Zeichnungen auf dem Schreibtisch des Anderen gesehen und sich gefragt, ob es das war, was er studierte. Auf Instagram warteten viele Nachrichten, und auch WhatsApp schien beinahe zu explodieren.

David war gefragt. Interessant. Aber die Whatsappnachrichten stellten sich schlussendlich nur als Spam in einer Gruppe heraus. Gelangweilt legte Victor das Handy weg und sah dann auf den Teller vor ihm, den Jeanette ihm vor die Nase geschoben hatte. "Luke! Jetzt!", rief sie die Treppe hinauf, und erntete ein unentzifferbares Geräusch. Seufzend kam sie zurück in die Küche und begutachtete Victor, wie er sein Rührei musterte. "Kein Hunger, Schatz?" Nein, ganz im Gegenteil. Ihm war schlecht und er hatte inzwischen das Gefühl, sich in dem Körper zurechtzufinden, was ihm gar nicht gefiel. "Irgendwie nicht, Mum.", antwortete er und lauschte seiner fremdartigen Stimme. Sie passte in das Engelsbild, dass er von dem Anderen hatte. Vielleicht ein bisschen naiv.

Luke kam die Treppe runtergestürzt, rieb sich mit dem Ärmel über die Nase und orientierte sich direkt Richtung Schuhschrank. Victor kniff die Augen zusammen. "Moment, was soll das werden?", fragte Jeanette aufgebracht und ging einige Schritte in höchst mütterlicher Haltung in Richtung ihres jüngeren Sohnes. "Ich will nichts essen.", gab Luke zur Antwort und wischte sich erneut über die Nase. Er zog die Kapuze über den Kopf und schleifte seine Schultasche zur Tür. Erwartungsvoll sah er Victor an. "Kommst du?"

Mit einem Mal bildete sich ein riesiger Steinklotz in seinem Magen. "Hm?", fragte er nach, in der Hoffnung, dass in diesem Haus niemand davon ausging, dass er Autofahren konnte. "Du hast versprochen, dass du mich mitnimmst!", beharrte Luke, der Victors Zögern wohl als Unwille missverstand. "Äh...", gab dieser von sich. Er hatte natürlich schon einige Male hinter dem Lenkrad gesessen, aber das war immer bei Nacht auf irgendwelchen verlassenen Straßen gewesen, als er betrunken gewettet hatte, rückwärts einparken zu können. Er war noch nie so richtig gefahren.

"Ich kann dich nicht mitnehmen, weil ich... weil ich... heute nicht fahre. Ich ähm, ich nehme den Bus, ich muss später noch bei einem Freund vorbei und..." Victor wurde von einem genervten Stöhnen von Davids Bruder unterbrochen. "Hätte dir das nicht vorher einfallen können?" Jetzt, wo Luke ihn direkt ansah, meinte Victor, einen bläulichen Schimmer an dem Knochen neben seiner rechten Augenhöhle zu erkennen. Er erinnerte sich an die Stimmen vom gestrigen Abend, an den wütenden George und an ein lautes Poltern, als hätte jemand eine volle Gasflasche in einen Holzschrank geworfen. Wut keimte in ihm auf. Er hätte George auf sich lenken sollen, weg von dem Kind. Es war sowieso nicht sein Körper, also hätte es ihm egal sein können. Stattdessen hatte er wie versteinert in dem fremden Bett gelegen und insgeheim gehofft, dass George nicht nochmal zu ihm kommen würde. Er fühlte sich wie ein Feigling.

Er war auch einer.

"Tschuldigung.", murmelte er und wandte sich ab. Mit einem lauten Krachen ließ Luke seinen Schulranzen auf den Boden fallen und kickte ihn ein Stück zur Seite. Victor konnte fühlen, was in ihm vorging und hasste sich eine Sekunde lang dafür, nicht den Führerschein gemacht zu haben. Bis er sich daran erinnerte, dass er, selbst wenn er regelmäßig zu diesen Lehrstunden gegangen wäre, niemals das Geld dafür hätte auftreiben können. "Luke!", schimpfte Jeanette und schüttelte einen Moment lang schweigend den Kopf. "Was habt ihr zwei nur heute Morgen?"

Na mal sehen. Victor müsste immernoch um die 10 Stunden warten, bis er wieder in seinem eigenen Körper wäre, müsste in dieser Zeit in irgendeine langweilige Universität sitzen und irgendwelche Menschen davon überzeugen, dass er David war. Und nebenbei die blauen Flecken verstecken, die der Kotzbrocken zu den schon verblassten auf dem Körper des Anderen hinterlassen hatte. Und dann war da dieser Typ der anscheinend sein Seelenverwandter sein sollte, aber Strippen als "Scheiße" bezeichnete und sich für so viel besser hielt, nur weil er nicht so lebte, wie Victor und Alice es taten. Und Alice. Die wohl totschweigen würde, dass Victors Seelenverwandter ein David war anstelle irgendeiner Diana. Ja, Victor hatte keine besonders gute Laune.

In diesem Moment hörte man die Treppenstufen ächzen und schwere Schritte das obere Stockwerk verlassen. Victor verzog das Gesicht. Der hatte ihm gerade noch gefehlt. Wie der Vorbote des Todes kalte Temperaturen mit sich brachte, hingen an George irgendwelche Geruchsschwafen, die rau und verschwitzt und auf seltsame Weise männlich, aber sehr unattraktiv auf Victor wirkten. Er hatte einen Bademantel über einer weißen Boxershorts an und fuhr sich durch die verstrubbelten Haare. Luke vermied den Blickkontakt. "Guten Morgen!", lächelte George und ging zu Jeanette, um sie zu küssen. Sie lächelte. Aber sie war zu gut für ihn. Victor hatte das Bedürfnis, ihn anzuknurren, unterdrückte aber den Drang. Mit einem lauten Quietschen schob er seinen Stuhl zurück und stand auf. "Ich hole meine Sachen.", verkündete er und nickte Luke zu.

In dem Zimmer des Anderen stand er eine Sekunde unschlüssig und regungslos da. Eigentlich sollte er wohl irgendwelche Schreibmaterialien in eine Tasche stopfen und dann einfach abhauen, alles hinter sich lassen. Aber er konnte es nicht. Tief durchatmend suchte er den Zettel, den David im Delirium für ihn geschrieben hatte, drehte ihn um und schnappte sich einen Stift.

"David! Beeil dich!"

Er legte ihn in den Nachttisch, schnappte sich wahllos eine Tasche, die ihm gepackt vorkam und verließ dann das Zimmer. Als er die Tür hinter sich zuzog war er erleichtert. Aber wollte sich auch nicht eingestehen, dass da ein kleiner Kloß in seiner Magengegend lag.

----

Hello my lovely readers :)

Die letzten 40 reads gingen  mal wieder super schnell! Vielleicht gehe ich bald auf 50 hoch!

Ich bin wirklich gespannt, was ihr zu diesem und den nächsten Kapiteln sagen werdet! Ich hab inzwischen bis Kapitel 21 vorgeschrieben (auch wenn ich noch nicht mit jedem Kapitel glücklich bin) und freue mich total darauf, euch das alles präsentieren zu können!

Außerdem hab ich meine Noten vom Abi und vom Endzeugnis bekommen und stehe bei beidem auf nem 1,7 bzw 1,9 Schnitt. Be proud :)

Okay, also: Meinungen, Kritik, Reaktionen und Ideen wie immer in die Kommentare!

AOF

The ME inside of YOU (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt