12- Der Donnerstag

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Als Victor 5 gewesen war, hatte er vor seinen Eltern erwähnt, dass er Jeremy, seinen besten Freund aus dem Kindergarten, heiraten würde. Als er 11 war schickte ihn sein Vater auf eine katholische Schule. Mit 13 küsste er das erste Mädchen, mit 14 den ersten Jungen, mit 16 schließlich das erste Mal mit einem Typen und nur Monate später schlief zum ersten Mal mit einem Mädel. Und mit 18 trennte er sich von seinem ersten und letzten festen Freund nach nur drei Monaten, weil seine Eltern es erfahren hatten.

Alice war nicht die Art Unterstützung die er für seine Sexualität brauchte, aber sie war mit ihm ausgezogen, war bei ihm geblieben, und sagte kein Wort mehr zu der Situation mit David, auch als die erste Woche des Totschweigens vergangen war und  Victor versuchte, in seinen alten Rythmus zu gelangen. Er ging zur Arbeit, blieb danach lange wach und wälzte sich im Bett bei dem Versuch, einzuschlafen. Ihm war nicht nach Sex, er ging nach der Arbeit meist direkt nach Hause. Dank Davids dummer Scham hatte Joe ihm unbezahlte Überstunden aufgedrückt, und Victor nahm ohne große Widerrede sein Schicksal an und verschwand noch länger im Club als sonst.

Irgendwas hatte sich verändert.

In der zweiten Woche kauften Alice und er sich wieder ein Smartphone, und Victor folgte, nachdem er einige Tage mit sich gerungen hatte, Davids Instagram Seite. Er schmunzelte über die Bilder, die er hochlud und sah sich die wenigen Fotos an, die David von sich selbst gepostet hatte. Was war es nur, was Victor so an diesem Kind faszinierte? Er war nicht anders als die anderen. Ein durchschnittlicher Typ, mit, zugegeben, einem hübschen Lächeln und faszinierenden Augen. Aber Victor kannte viele mit hübschem Lächeln und faszinierenden Augen.

Es  war etwas in der Art, die er an sich hatte. Erst hatte Victor gedacht, dass er einfach überheblich sei, aber dann dämmerte ihm, dass Wertvorstellungen dahinter steckten. Stärkere Wertvorstellungen, als er sie hatte.
"Das ist kein Job, das ist beschissen.", hatte David zu ihm über seinem Job gesagt. Zum ersten Mal fragte sich Victor, ob er vielleicht recht hatte. Als Single war Stripper zu sein super. Aber er war sich nicht mehr sicher, ob er für immer Single bleiben wollte. Er wollte David anrufen. Ihm schreiben. Kontakt aufnehmen, wenn nötig über Rauchzeichen. So eine Scheiße.

Als die dritte Woche begann, ging es Victor schon besser. Die Gedanken an den Anderen verblassten langsam, Alice sprach wieder mit ihm, er hatte herausgefunden, wie er Pornos vor Alice verstecken konnte, obwohl sie das Handy mitbenutzte. Alles schien besser zu werden, er entspannte sich wieder, sah die Normalität schon in greifbarer Nähe, kramte die Nummer eines alten Sexpartners wieder raus; der  war immer bereit. Alles wurde besser, bis der Donnerstag kam.

Er kam gerade von der Arbeit zurück, es war halb elf, er war etwas länger geblieben. Als er durch den Flur ging, entdeckte er Licht im Wohnzimmer, und anstatt wie sonst daran vorbeizugehen, blieb er im Türrahmen stehen. Auf der Couch saß Alice, vor einem Stapel Briefe und mit einer Zigarette in der Hand. Sie zog daran und sah Victor an. "Du bist früh Zuhause." Er zuckte mit den Schultern. Noch immer raste sein Herz. Er war aufgewühlt. "Nein, ich meine: Du bist immer früh Zuhause. Jeden Tag, seit drei Wochen. Du gehst nicht mehr aus, ich schätze, du vögelst dich nicht mehr durch die halbe Stadt. Und ich frage mich, warum."

Die Luft zwischen den beiden war geladen, sie starrten sich an und rangen beide nach Worten. Alice sah müde aus, als wäre sie wach gelegen, und Victor meinte, ihre Wangenknochen viel deutlicher wahrzunehmen, als sonst. Er dachte: Da habe ich was aus den Augen verloren. Ohne weitere Worte ging er in die Küche, machte ein Sandwich mit dem, was sie eben gerade da hatten, teilte es in zwei Hälften und ging damit zurück zu Alice. Sie blies den Rauch zur Decke und machte dabei ein "tsss"- Geräusch, das bedeutete, dass es ihr unangenehm war, und sie das mit einem Lachen überdecken wollte.

Victor nahm die eine Hälfte vom Sandwich und schob Alice die andere hin. Widerwillig drückte sie die Zigarette aus und biss in Victors Mahlzeit. Er tat es ihr Gleich. Wann immer sie einen Biss nahm, nahm auch er einen. Für eine Weile blieb es still, nur das Kauen und gelegentliche Abbeißen gab der Stille Charakter.

"Er war heute ihm Club."

Alice legte den kleinen Rest ihres Sandwiches weg und strich ihre Hände aneinander.
"Der Kleine?"
"Er wird bald 20." Victor seufzte. "Aber ja, David. Er war im Club." Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, das zu erzählen, aber sein Herz schlug so schnell, dass er es jemandem mitteilen musste.
"Was wollte er?"
"Ich weiß nicht. Wir haben uns unterhalten. Er hat mir seine Nummer gegeben. Ich werde ihn anrufen."

Alice zog eine Augenbraue nach oben. "Du gehst mit ihm auf ein Date? Das hast du ja noch nie gemacht."
Abwehrend stand Victor auf.
"Ich weiß, dass du das nicht gut findest, aber... ich weiß nicht, ich glaube David könnte... ich weiß es nicht." Er atmete tief durch und sah sie dann endlich an. "Ich bin eben bi. Das weißt du auch. Und da ist dieser Typ der... ich weiß doch auch nicht, er ist einfach... da. Und ich will... ich will... ich will Zeit mit ihm verbringen. Zum ersten Mal denke ich nicht mit meinem Schwanz. Du hast mich noch vor drei Wochen gefragt, ob ich nicht mal was Festes will, und jetzt... jetzt könnte ich das wirklich wollen. Ich weiß, dass du eine Frau gemeint hast, aber... ich schätze, das wird es nicht werden." Er brach den Blickkontakt ab. "Ich weiß, dass das scheiße ist."

Sie zuckte mit den Schultern. Victor hatte keine wohlwollenden Worte, keine liebevolle Versöhnung erwartet, aber etwas in ihm hatte darauf gehofft. Dieses Etwas zerbrach ein kleines bisschen. "Ich brauche deine Unterstützung dabei.", sagte er dann und fuhr sich müde übers Gesicht. "Ich kann nicht mehr um das Thema herumtippeln als wäre es nicht da.  Früher war es auch nicht so wichtig wie jetzt. Ich. Bin. Bisexuell. Du musst anfangen, dich damit anzufreunden. Ich brauche wenigstens eine Person, die..." Aber Alice mied weiter seinen Blick. Resigniert ließ er das Thema fallen. "Vergiss es. Gute Nacht."

Aufgebracht stand Alice auf. "Ja natürlich ist das Scheiße! Ich... ich habe so eine Wut auf dich, weil du diesen... Lebensstil... ach, was weiß denn ich. Es hat eine verdammte Granate in unsere Familie geworfen."
Aufbrausend kam Victor auf sie zu. Er hatte das Bedürfnis, jetzt endlich den Streit zu führen, dem sie schon 4 Jahre lang aus dem Weg gingen.
"Und das soll meine Schuld sein?" Er hatte nicht so laut werden wollen.
"Ich weiß es nicht!", schrie Alice zurück. Sie sahen sich einen Moment lang an, sammelten sich. "Ich meine, ich habe dir die Schuld gegeben."
"Ich hab da keine Kontrolle darüber, Alice. Du bist 24 Jahre alt, das solltest du wissen."
Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und murmelte etwas Unverständliches, schüttelte ein wenig den Kopf und atmete tief ein und aus. Victor beobachtete sie geduldig, um ihr kurz Zeit zu lassen. Auch ihm kam die kurze Verschnaufpause gelegen. Viele Emotionen kochten hoch, und er wollte einen klaren Kopf bewahren.

Alice nahm ihre Hände von ihrem Gesicht und seufzte. "Ich weiß, es tut mir leid. Ich habe mich einfach nicht... damit anfreunden können. Ich mag es nicht, es fühlt sich so... fremd an." Diesmal zuckte Victor mit den Schultern.
Alice sah auf. "Ich muss erwachsen werden." Er lächelte. "Ich befürchte es, ja." Sie seufzte erneut und stieg in sein Lächeln mit ein. "Ich kann ja nichts dran ändern." Er schmunzelte. "Nein." Sie nickte und ging zu ihm. "Dann werde ich dir wenigstens helfen, damit aus dir und David was wird. Der ist nämlich einer von den Guten, und für die muss man sich anstrengen."

The ME inside of YOU (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt