Der Neue

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Es war mitten im Schuljahr, die Weihnachtsferien waren gerade zu Ende gegangen, als er an unsere Schule gekommen war. Ich war darauf nicht vorbereitet gewesen und schon gar nicht auf das, was er mit mir machen wird. Es ist schon eine ganze Weile her, aber ich erinnere mich an den Tag als wäre es gestern gewesen, an dem er zum ersten Mal vor mir erschienen ist.

Mit meiner besten Freundin Lina war ich gerade die sieben Treppen zu unserem Kursraum hochgehechelt. Ich hasste Treppen und beschwerte mich gerade lautstark darüber, dass wir Schüler den Aufzug nicht benutzen durften. Lina konnte darüber nur schmunzelnd den Kopf schütteln. Sie beschwerte sich nie, wenn wir wie jeden Dienstag in den vierten Stock hochlatschen mussten, um zum Deutsch-Unterricht zu gelangen.

Normalerweise waren wir immer die ersten oben; die Lehrerin kam oftmals später, worüber ich mich natürlich nicht beschwerte. Doch heute war etwas anders. Ein Junge saß vor der Tür zum Kursraum. Er hatte den Kopf gesenkt, sodass seine schulterlangen, braunen Haare sein Gesicht verdeckten und schien uns nicht zu bemerken. Weil ich mich kurz zuvor ziemlich laut beschwert hatte, war wohl dafür die einzige mögliche Erklärung, dass er taub war oder schlief. Letzteres könnte ich ihm nicht verübeln. Schließlich war heute der erste Tag nach den Ferien und auch ich hatte nur wenig Schlaf abbekommen.

"Wer ist das?", flüsterte ich Lina zu. Wir waren beide bei seinem Anblick stehen geblieben und musterten ihn von oben bis unten. Er hatte einen etwas schlabbrigen, schwarzen Sweater an und dazu eine Jogginghose in derselben Farbe. Sein rechtes Knie war angewinkelt und ein Arm lag darauf. Ich legte den Kopf schräg und meinte, ein Tattoo auf seinem Handrücken erkennen zu können. Allerdings war das Licht noch nicht angegangen, weshalb ich im ersten Moment dachte, ich hätte mich getäuscht.

Lina und ich sahen uns an und tauschten uns ohne Worte aus. An ihrem Blick konnte ich erkennen, dass ihr dieser Typ nicht geheuer war und sie lieber auf Abstand bleiben wollte. Ich konnte ihr das nicht übelnehmen; schließlich war vor etwa einem Jahr ein Fremder in unsere Schule eingedrungen und hatte ein junges Mädchen vergewaltigen wollen. Zum Glück war die Sache gut ausgegangen und niemand war zu Schaden gekommen worden. Jedoch durften die jüngeren Schüler seit dem Vorfall nur noch zu zweit während des Unterrichts auf Toilette gehen.

Ich wusste nicht, was ich in einer solchen Situation getan hätte, aber heute in diesem Moment überwog meine Neugier und ich näherte mich dem Typen. Lina folgte mir netterweise, trotz ihrer Unsicherheit.

Der Bewegungsmelder wurde ausgelöst und das Licht ging an. Ich hörte, wie der Junge sich grummelnd regte. Es war ein tiefes Grummeln, wenn nicht sogar ein bisschen bedrohlich. Mein Herz klopfte schnell gegen meine Brust, als der Typ den Kopf hob und uns ansah. Seine grünen Augen blieben in meinem Blick hängen. Die Haare fielen ihm jetzt über die Augen, aber trotzdem brannten sie sich in meine und ließen mir einen kalten Schauer über den Rücken fahren. Sie hatten etwas Kaltes und Undurchdringliches an sich, das mich irgendwie in ihren Bann zog.

Hätte Lina mich nicht leicht in die Seite gestoßen, wäre ich wahrscheinlich für immer in seinem Blick versunken und nie wiederaufgetaucht. So räusperte ich mich jetzt und blickte auf etwas anderes - seinen Sweater.

"Wer bist du?", brachte ich mit kratziger Stimme heraus und räusperte mich automatisch nochmal.

Er lehnte den Kopf an die Wand und sah mich schief lächelnd an. In dem Moment hatte ich mir schon irgendwie denken können, dass er nicht komplett nüchtern war. Aber sein Lächeln packte mich trotzdem. Er hatte ein unglaublich schönes Lächeln. Als er den Kopf bewegte, wurde der Blick auf noch etwas anderes freigelegt. An der Seite seines Halses sah man den Ansatz eines Tattoos und ich war mir sicher, dass es mindestens einen großen Teil seines Rückens bedeckte. Ein Blick auf seine Hand, die immer noch auf seinem Knie ruhte, sagte mir, dass ich mit meiner Vermutung kurz zuvor richtig gelegen hatte. Drei tätowierte Sterne zierten seinen Handrücken und funkelten mir entgegen.

"Ich bin der Neue", meinte der Typ plötzlich und seine Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken. "Jax." Er streckte seine rechte Hand aus - die mit den Sternen.

"Nicht", zischte mir Lina zu und legte mir eine Hand auf die Schulter, aber ich trat trotzdem einen Schritt auf ihn zu und griff nach seiner Hand. Sie war warm, groß und stark.

Ich drückte gegen seinen festen Händedruck an und hatte das Gefühl, dass er mich testen wollte, wie lange ich dem Druck standhielt. Natürlich blieb ich standhaft und blickte ihm fest in die Augen. Er hatte meine Hand schon länger in seinem Griff als bei einem normalen Händeschütteln, doch es störte mich nicht. Im Gegenteil; als er sie wieder losließ, fühlte sie sich merkwürdig kalt an. Jedoch war ich froh, dass er dadurch auch verhinderte, dass ich wieder in seinen Augen versank.

"Und du bist?", fragte er und - ich bemerkte, dass ich vergessen hatte, mich vorzustellen. Gott, wie peinlich

"Cleo", antwortete ich mit erstaunlich fester Stimme. "Und das ist meine Freundin Lina." Ich zeigte auf diese und hatte somit auch eine gute Ausrede, mich kurz von ihm abzuwenden. In dem kurzen Augenblick versuchte ich meine Gedanken zu ordnen und mir klarzumachen, was gerade mit mir passierte. Ich atmete einmal tief durch, um meinen Puls etwas unter Kontrolle zu bekommen und sog dabei einen starken Geruch nach Alkohol und Rauch auf. Automatisch rümpfte ich die Nase, was aber nur Lina mitbekam.

"Nett, dich kennenzulernen", sprach Jax weiter und augenblicklich schoss mein Kopf wieder zu ihm. Mir fiel auf, dass er nur mich anredete und meine beste Freundin außen vor ließ. Irgendwie unhöflich. Aber was sollte man auch anderes erwarten, wenn man ihn so dasitzen sah. Seine ganze Ausstrahlung schrie doch danach, dass er alles andere als der brave Schüler von nebenan war. Der hatte doch bestimmt nur die Worte kiffen und saufen im Kopf. Wie hatte dieser Typ es nur geschafft, aufs Gymnasium zu kommen und dann auch noch bis in die Oberstufe?

Er macht mich wahnsinnig!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt