Kapitel 1 ...öffnet sich eine andere Tür
Ich höre das sanfte Kratzen von Graphit auf Papier. Es ist gleichmäßig und monoton. Beruhigend und zugleich nervenzerreißend. Ich vernehme das zarte Knistern der bröckelnden Graphitsplitter, die über die raue Oberfläche streichen. Ich male mir die schnellen und eindeutigen Bewegungen aus, die die Spitze über das weiße Papier vollführt. Es klingt, wie das Füllen mit einer Schraffur. Formen, Figuren und Muster. Ungestüm sind die Bewegungen und ich ersinne, was sie definieren. Vielleicht ist es der feine Schwung einer Rundung, so unendlich weit und grenzenlos. Eleganz in vollendeter Form. Oder vielleicht die grade Vollkommenheit eines Winkels mit der perfekten Harmonie eines punktuellen Moments. Ich sehe, wie die Linien ineinander verschmelzen und fantastische Formen bilden. Sie erschaffen Fläche und Konturen. Sie sind Abstrakt und zu gleich offenbaren sie Reinheit und Funktionalität. Ein leiser Seufzer perlt von meinen Lippen und ich höre das Rollen eines Stiftes, der am Ende splitternd zu Boden fällt. Das Geräusch des Aufschlags hallt lautstark durch meine Gehörgänge und in Zeitlupe sehe ich ihn fallen. Das Auftippen der Spitze. Graphit splittert. Die schlanke Gestalt des sechskantigen Holzes erzittert in der Luft. Der Stift neigt sich zur anderen Seite und prallt leise auf dem stumpfen Ende des Radiergummis ab. Wieder und wieder das wechselhafte Spiel, bis er still liegen bleibt.
Plötzlich rollt er auf mich zu.
Ich schrecke auf und sehe mit rasendem Herzen auf. Ein kurzes, ersticktes Geräusch perlt von meinen Lippen und mein Vordermann dreht sich zu mir um. Seine Augenfarbe kann ich in der Dunkelheit des Hörsaals nicht definieren, aber das genervte Funkeln sehe ich deutlich. Ich presse meinen Mund zusammen und schaue ihn entschuldigend an. Vielleicht habe ich geschnarcht? Ich sehe mich kurz um, aber keiner der anderen Studenten ist auf mich aufmerksam geworden. Mit der Hand fahre ich mir durch die zerzausten Haare und ich schaue auf meine mehr als dürftigen Mitschriften. Die Müdigkeit zerrt an meinen Nerven, denn ich habe gestern Abend zu lange in meinem Lehrbuch geblättert. Behalten habe ich auch nichts. Also in zweierlei Hinsicht ein klarer Fehlschlag. Als ich wieder aufschaue, sehen mich diesmal wirklich einige der anderen Studenten an und als ich zur Leinwand gucke, blicke ich direkt in das strenge Gesicht meines Professors. Mir ist gar nicht aufgefallen, wie still es mit einem Mal geworden ist.
„Herr Dima, wären sie so freundlich uns zu erläutern, was der Aspekt der formalen Schlüssigkeit ist." Ich fühle mich erwischt und überrumpelt. Außerdem ist es mir ein Rätsel, warum sich wirklich jeder sofort meinen Namen merkt. Ein Fluch und ein Segen. Im Moment lähmender Fluch.
„Ähm, ja. Also, im Prinzip sagt das nur aus, dass man an dem Produkt selbsterklärend erkennen muss, wofür man es verwendet", stottere ich zusammen und sehen mit Erleichterung, wie der Professor zustimmend nickt. Ich atme aus. Doch was behalten. Ich sacke sachte in mich zusammen und schließe beruhigt die Augen.
„Ich hoffe, dass ich nun ihre Aufmerksamkeit zurück erlangt habe." Warnend. Schlagartig sind meine Augen wieder offen.
„Sir, Sie hatte sie ja nie verloren!", kontere ich und ignoriere die Blicke der anderen Studenten. Er schmunzelt, wirft eine allgemeingültige Definition an die Leinwand und setzt seine Erläuterung fort. Ich suche nach meinem Stift. Erst nach einer Weile kapiere ich, dass er runtergefallen ist und versuche mich an dem ausgeklappten Tisch vorbeizuschieben. Ich gebe auf, als ich mir zum dritten Mal die Rippen stoße. In meiner Tasche finde ich einen Kugelschreiber und beginne, mit der Spitze auf meinem Papier herum zu tippen. Ich beende meine Grundlagenvorlesung zum Thema Gestaltungsprozesse mit einem beschämenden Gefühl in der Brust und bin heilfroh, dass mich im Flur niemand auf meinen Fauxpas anspricht.
Die ersten Wochen meines Studiums für Produkt- und Industriedesign sind mittlerweile vergangen und ich schlafe bereits jetzt während der Vorlesungen ein. Traumhaft, hallt es sarkastisch durch meinen Kopf. Aber nur ein Symptom einer ganzen Reihe von Unwegsamkeiten, die mich hierher gebracht haben.
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Doors of my Mind 2.0 - Ihr Freund. Mein Geheimnis
Romance[Fortsetzung von 'Doors of my Mind- Der Freund meiner Schwester'.] Wenn ich meine Augen schließe, dann sehe ich ihn. Seine wunderschönen grünen Augen, die sich wieder und wieder in meine Gedanken schleichen. Und obwohl er mich abgewiesen und verletz...