Familie und andere Tragödien

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Kapitel 3 Familie und andere Tragödien

Der Rest der Woche verfliegt, ohne, dass ich noch einmal was von Raphael höre. Doch meine Gedanken sind ständig bei ihm. Es ist wie verhext. Zwischendurch habe ich Momente, in den ich der vollen Überzeugung bin, dass ich mir alles nur eingebildet habe. Raphael nie hier gewesen ist. Mich nicht geküsst hat. Doch jeden Tag erhalte ich Sharis mahnende Worte in Form von Textnachrichten und Wortschwalle. Ich versuche sie zu beschwichtigen, doch sie kennt mich mittlerweile zu gut. Sie weiß, wie sehr es in meinem Kopf arbeitet und sie hat Recht.

Seit mehreren Tagen schlafe ich schlecht, wälze mich von einer Seite zur nächsten und frage mich, was Raphael mit seinem Besuch bezweckt hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm plötzlich klar geworden ist, wie wichtig ich ihm bin. Dass ich ihm wichtiger bin als sein normales, einfaches Leben mit Maya, dem er beim letzten Mal noch alles an Bedeutung beigemessen hat. Es zermürbt mich. Ich bin hin und her gerissen zwischen hoffungsvoller Zuversicht, nagendem Zweifel und bohrendem Misstrauen. Als er in den Staaten war, waren meine Gedanken zwar nie gänzlich von ihm weg, aber dennoch hatte die Distanz etwas Gefühlsbeschwichtigendes für mich gehabt. Seine Anwesenheit ändert das schlagartig. Im Grunde weiß ich nicht einmal, ob ich darüber zufrieden oder verärgert sein soll, dass er hier auftaucht und sich dann nicht wieder bei mir meldet. Was soll das?

Nur der Anruf meines Vaters erinnert mich daran, dass ich versprochen habe am Sonntag für Kaffee und Kuchen vorbeizukommen. Ich habe es verdrängt. Erfolgreich.

Am Sonntagmorgen bin ich früh wach, gehe kalt duschen um in Gang zu kommen und habe meine Schwierigkeiten, wirklich konzentriert zu bleiben. Nur ein paar Stunden bei der Familie, das sollte ich schaffen. Meine Laune ist unterirdisch. Erdkernnahe. Ein paar Meter tiefer und ich löse mich in flüssiger, heißer Lava auf. Oder Magma. Egal, Hauptsache heiß. Ein leises verpuffendes Geräusch kommt mir in den Sinn und all meine Probleme wären schlagartig gelöst. Ich schüttele die Gedanken seufzend fort.

Meine Hand umspielt die silberne Kette, die schon wieder um meinem Hals hängt. Ich ziehe sie mir über den Kopf, lasse den schmalen Anhänger durch meine Finger gleiten. Wiederholt lese ich das Datum, so wie ich es in den letzten Monaten immer wieder getan habe. Seine letzten unausgesprochenen Worte an mich. Bedeutungsschwer und dennoch ohne weitere Erklärungen seltsam leer. Im Grunde weiß ich noch immer nicht, was er genau für mich empfindet. Das Gefühl seiner Lippen auf den meinen kommt mir in den Sinn. Sanftheit. Erregung und das zarte Aroma des Verlangens. Meine Lippen beginnen zu kribbeln. Ich fasse mir dagegen um die Vibrationen aufzuhalten.

Noch ein weiteres Mal streiche ich über das Silberstück und lege sie mir wieder um den Hals. Ich stehe auf und ziehe mir das Hemd über. Knopf für Knopf schließe ich es bis die Kette unter dem dünnen Stoff verschwunden ist. Für einen Moment denke ich darüber nach, sie nicht zu tragen, schließlich weiß ich bis heute nicht, ob Maya die Kette kennt. Ich betrachte mich im Spiegel. Das Hemd ist weinrot und schmal geschnitten. Es betont meine Figur. Shari hat es für mich ausgesucht. Sie sagt, ich müsse auch Hemden besitzen Schließlich könne man nicht überall mit einem T-Shirt auftauchen. Mein Argument, dass ich bereits Hemden besitze, stritt sie freundlich ab und überzeugte mich voll Inbrunst zu einem Neukauf.

Das Hemd passt gut zu mir. Es unterstreicht die Wärme meiner braunen Augen und schmeichelt meinem Teint. Das mit Teint habe ich von Shari.

Vorsichtig schiebe ich mir das Hemd in die Hose und krame dann nach meinen Schuhen. Ich sehe auf die Uhr und weiß schon jetzt, dass ich zu spät kommen werde. Ich lasse meinen Blick noch einmal über die kleine Kommode im Flur wandern und greife nach meinem Portmonee. Ich atme tief ein, schnappe mir meine Jacke und gehe endlich los.

Wenig später stehe ich vor dem Haus meine Eltern. Ich hole meinen Schlüssel aus der Tasche. Doch bevor ich die Tür aufschließen kann, wird sie aufgerissen.

Doors of my Mind 2.0 - Ihr Freund. Mein GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt