Von Mal zu Ma(h)l

1.1K 106 362
                                    

Kapitel 11 Von Mal zu Ma(h)l

Das Dröhnen in meinem Kopf breitet sich vom vorderen Teil meines Gehirns langsam, aber sich nach hinten aus. In meinem Traum stehen vier Bauarbeiter mit Asphalthammer um mich herum. Ich drücke mein Gesicht fester in das Kissen und seufze schwer. Das Kissen riecht anders. Kissen? Mit einem Mal sitze ich senkrecht. Die schnelle Bewegung war keine gute Idee. Der stechende Schmerz, der sich in meinem Kopf ausbreitet, scheint mein Gehirn in zwei Teile zu spalten. Ich ächze laut. Tequila. Der böse Tequila. Warum kann ich auch nie Nein sagen? Shots waren noch nie meine Stärke. Das musste ich bereits bei den letzten Treffen vermehrt feststellen. Daraus gelernt habe ich offenbar nichts.

Ich blinzele einäugig umher und erforsche meine Umgebung. Im ersten Moment verwundert, dann begreifend. Ich liege auf der Couch in Raphaels Wohnzimmer. Wieso bin ich in Raphaels Wohnung? Ein paar Bilder des gestrigen Abends blitzen auf. Momente aus der Bar mit Danny. Sein Lachen. Sein schockiertes Gesicht gefolgt von Raphaels verwundertem, als er mir die Tür öffnete. Mit einem Mal schmecke ich die Süße seiner Lippen in meinem Mund und das Aroma seines Körpers benebelt mich. Die Erkenntnis trifft mich, wie ein tosendes Gewitter. Hart. Unbarmherzig und in keiner Weise schonend. Ich erinnere mich. Ich erinnere mich an jedes noch so kleine Detail und am deutlichsten sind die Worte, die ich ihm an den Kopf geworfen habe. Grandiose Leistung.

Mein Blick wandert zum Schreibtisch. Ich weiß, dass ich dort gesessen und gezeichnet habe. Dabei muss ich eingeschlafen sein. Müde streiche ich mir durch die Haare und lasse mich wieder ins Kissen fallen. Wie bin ich auf die Couch gekommen? Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder bin ich mitten in der Nacht zur Couch geschwebt oder geschlafwandelt. Nein, eigentlich gibt es drei. Die beiden genannten und Raphael. Ich schaue auf das Kissen und die Bettdecke, die mich bedecken. Er muss mich gefunden und auf die Couch verfrachtet haben. Wie peinlich. Ich habe nichts davon mitbekommen, denn mit Alkohol im Blut schlafe ich so tief, wie ein Stein.

Warum hat er mich nicht einfach rausgeschmissen? Das widerwärtige Gefühl vom gestrigen Abend überfällt mich erneut. Was er wohl jetzt von mir denkt? Ich rappele mich auf und sehe zum Couchtisch, auf dem eine Flasche Wasser steht.

Ich bade noch etwas im Selbsthass und stehe auf. Ich richte meine Klamotten und rieche abgestandenen Rauch und Alkohol. Der Gestank völligen Versagens. Selbst die Decke riecht danach. Ich ziehe den Bezug vorsorglich ab und räume alles zusammen. Als ich fertig bin, bleibe ich vor der Couch stehe und merke, wie sich mein Herzschlag noch immer nicht normal anfühlt. Es vibriert schier in meiner Brust und es wird schlimmer, als ich zur Tür sehe. Ich öffne sie und lausche. Keine Bewegung. Kein Geräusch. Nichts. Beim letzten Mal, als ich in seiner Wohnung genächtigt habe, war er auch am nächsten Morgen verschwunden. Diesmal kann ich es sogar verstehen. Ich verspüre das dringende Bedürfnis, mich bei ihm zu entschuldigen, also setze ich mich wieder an den Schreibtisch. Das Bild, welches ich gestern weiter gemalt habe, hängt wieder an seinem Platz. Trotz meines betrunkenen Zustands ist es recht gut gelungen. Je länger ich es ansehe, umso weniger weiß ich, wie ich den Ausdruck seines Gesichts interpretieren soll, den ich ihm selbst gezeichnet habe. Wie das Ganze wohl für ihn gewirkt hat? Ich, betrunken, dämlich und an seinem Schreibtisch eingeschlafen.

Für einen Moment lasse ich meinen Kopf auf das Holz sinken. Viermal lasse ich ihn draufschlagen. Als ich mich wieder aufrichte, sind meine Kopfschmerzen stärker und mein Gemüt keineswegs erleichtert. Ich bin so ein Idiot. In vielerlei Hinsicht. Ich lehne mich seufzend zurück.

Mein Finger tippt gegen den Einband eines der dicken Bücher, die auf seinem Schreibtisch verteilt liegen. Einige sind aufgeschlagen, andere mit hunderten Klebchen markiert. Sie sind aus der Bibliothek, dass erkenne ich an der Standortmarkierung. Ich greife mir eines, schlage es auf und finde darin einen geschriebenen Text. Ein Aufsatz über Geschlechter und Koedukation im Sport. Es ist ein Ausdruck. Der Inhalt ist gut und verständlich, selbst für einen Laien, wie mich. Manche Sätze sind holprig. Grammatik und Rechtschreibung sind nicht Raphaels Stärke. Vielleicht sollte ich ihm Shari zur Verfügung stellen. Sie macht Tabula rasa mit jedem noch so kleinen Fehler. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, welches schnell wieder erstirbt. Ich weiß so wenig von ihm. Mein Blick fällt erneut auf das Familienportrait. Seine Familie ist jüdisch. Ich weiß nicht, ob Raphael gläubig erzogen wurde. Ich bin nur ein nichtsnutziger, an nichts glaubender Atheist. Für mich ist das ein Dilemma weniger. Aber für Raphael? Selbst meine Eltern wissen mehr über ihn, als ich. Mit ziemlicher Sicherheit weiß meine Mutter, dass Raphael jüdisch ist. Wieso weiß ich es nicht? Ich bin ein ziemlicher Heuchler. So gesehen haben wir nie viel miteinander geredet und im Prinzip tun wir es noch immer nicht. Wenn wir reden, dann oft aneinander vorbei oder weichen einander aus. Ich schiebe den Text wieder zurück in das Buch und schließe es.

Doors of my Mind 2.0 - Ihr Freund. Mein GeheimnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt