Luft durchströmte meine Lungen. Ich versuchte nachzuempfinden, wie sich die innere Ruhe einstellte, die der tiefe Zug ganz natürlich in mir erzeugte. Als ich mir das Gefühl genau eingeprägt hatte, ließ ich meinen Atem frei und zurrte das Haargummi an meinem Hinterkopf fest um den Pferdeschwanz, sodass der Zopf sich auch bei den wildesten Bewegungen nicht lösen würde. Ich blickte in meine eigenen kastanienbraunen Augen im Spiegel. Meine Wimpern waren schön geschwungen, aber es fehlte die Tusche, die sie lang zauberte – Und somit der Ausdruck, der meine Augen sonst zum Strahlen brachte.
Die willkürlich um meine Nase tanzenden Sommersprossen traten auf meinen Wangen deutlich in den Vordergrund. Kein Rouge, das von ihnen ablenkte, keine Foundation, die sie überdeckte. Es war ewig her, dass ich mich das letzte Mal ungeschminkt auf die Straße getraut hatte und die potentiellen Blicke der Leute waren mir unheimlich. Ich starrte meinen Concealer an, der oben auf der frisch gewischten Schminkkommode stand. Zum Sport trug ich normalerweise kein Make Up. Aber Dag hatte sich vehement geweigert, Parkour als Sport zu betiteln. Wenn er mir heute bloß ein paar Tricks beibrachte, war ein bisschen Camouflage sicher erlaubt, oder nicht?
„Pari!" Mika klopfte gegen meine Tür. Hastig schaltete ich die laute Musik an meinem Rechner aus.
„Sofort!", rief ich, schraubte den Concealer auf und verteilte etwas davon unter meinen Augen.
„Er wartet unten", informierte Mika mich. „Viel Spaß!", fügte er noch hinzu, dann hörte ich wie er die Badtür verriegelte. In grau-violetten Yoga-Leggings und einem weißen, bedruckten T-Shirt huschte ich in den Flur, schlüpfte rasch in meine Nikes und nahm nur meinen Schlüssel vom Haken.Dag konnte sehen, dass ich geschminkt war, wenn auch nur minimal, und ich fragte mich, ob ich nicht die falsche Entscheidung getroffen hatte. Kein Make Up war immer noch besser als schlecht aufgetragenes und die wenige Zeit, die mir zum Verblenden geblieben war, hatte nicht ausgereicht, um die Übergänge vollständig verschwinden zu lassen.
„Hi", begrüßte er mich, ohne mein Aussehen zu kommentieren. Ich schmiegte mich an ihn und versuchte automatisch, mich an seiner Brust vor dem Rest der Welt zu verstecken. „Bereit fürs Training?", fragte er mich.
„Klar, lass uns loslegen", brummte ich wenig enthusiastisch in seinen Hoodie.
„Hast du ein Fahrrad?" Perplex löste ich mich von ihm.
„Von einem Fahrrad war nie die Rede. Seit wann trainiert man Parkour auf dem Fahrrad?" Dag lachte.
„Tut man nicht. Hast du jetzt eins?"
„Nein", schüttelte ich den Kopf.
„Kannst du Iaras ausleihen?"
„Wozu?", fragte ich neugierig und legte beide Hände auf seine Brust. Der roségoldene Glitzerlack auf meinen Nägeln blitzte auf, als ich mich in den Stoff krallte.
„Weil ich dich ansonsten auf meinen Gepäckträger setzen muss. Ich will zum Tempodrom, das Gelände dort ist super für Einsteiger wie dich."
„Einsteiger", wiederholte ich sarkastisch. „Parkour ist bestimmt nichts, was meinen wöchentlichen Besuch im Fitnessstudio ersetzen wird."
„Ey, du Muffel", pöbelte er mich an, nahm meine Hand und führte mich zu seinem Fahrrad, das er an die Hauswand gelehnt hatte. „Sei mal offen für was Neues. Vielleicht macht's dir ja Spaß."
„Das bezweifle ich. Die Videos, die du mir geschickt hast, waren cool, aber ich bin eine Kartoffel."
„Du bist keine Kartoffel", widersprach er gereizt.
„Wenn ich von Geländer zu Geländer springen soll, bin ich garantiert eine Kartoffel, du wirst schon sehen." Ich streckte ihm die Zunge raus und kletterte auf den Rahmen des Rads, direkt vor dem Sattel. „Denkst du, du kannst so mit mir fahren?", wechselte ich das Thema.Nachdem Dag mich stundenlang über die Treppenstufen gescheucht hatte, war ich mehr als nur erledigt.
„Das war fucking anstrengend", keuchte ich.
„Gleich lässt die Erschöpfung nach, dann fühlst du dich besser", versprach er. Ich hatte meinen Kopf statt auf die warmen Steinstufen in seinen Schoß gebettet, merkte aber, wie mein Nacken steif wurde von der Haltung, weshalb ich mich aufrichtete und die Ellbogen auf die Knie stützte.
Die Sonne ging unter und um uns herum war es menschenleer. Mit Ausnahme des Mannes, der mit seinem Hund Gassi ging, war weit und breit niemand aufgetaucht.
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Don't Enter the Friendzone
Fanfiction~ Auf der Suche nach uns selbst kann uns niemand begleiten. ~ Pari hat sich nie sonderlich für die Leute interessiert, mit denen Iara, ihre beste Freundin, sich sonst so umgibt. Die meisten von ihnen verdienen Unsummen mit ihrer Musik und treten deu...