Kapitel 1: Familie

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Kiss me hard before you go
Summertime sadness
I just wanted you to know
That baby, you the best

I got that summertime, summertime sadness
Su-su-summertime, summertime sadness
Got that summertime, summertime sadness
Oh oh

"Caprice?"
"Hmmm? Was willst du Nervensäge?", stöhnte ich genervt, als ich mir meine Kopfhörer aus den Ohren zog und verträumt in Richtung meines Bruders guckte.
"Dachte ich sag dir Bescheid, bevor du die Autoscheibe knutschst und die so eklig anhauchst beim Ausatmen. Nicht sehr ansehnlich, Cap". Ich sah Alfie, der mit richtigem Namen Alfred hieß, aber wirklich jedem Schläger androhte, der versuchte ihn so zu nennen, meinen älteren Bruder, der nebenbei der größte Affe auf diesem Planeten war, verstört an und wandte mich dann wieder der grünen Landschaft Surreys zu, die sich wie eine Diashow vor meinem Fenster abspielte. Surrey, eine Grafschaft im Süden Großbritanniens, lag ziemlich weit entfernt von unserem eigentlichen Wohnsitz: London. Sie war ländlicher und ruhiger, weniger Touristen und deswegen kein schlechter Ort um ihn aus dem Auto zu bewundern. Wieso wir hier unterwegs waren? Zuallererst sitzen wir hier zu fünft in einem riesigen Auto, damit wir uns nicht gegenseitig berühren mussten. Ob wir eine Familie waren, schien in der Hinsicht keinen zu stören, Hauptsache man konnte zu dritt auf der Rückbank schlafen ohne Zärtlichkeiten auszutauschen.

Zu meiner 'Familie' gehörten nicht nur Alfie, der Idiot von Bruder rechts von mir, sondern auch die kleine Michelle, die verwöhnte Prinzessin unter uns. Sie war sieben und damit die Jüngste von drei Kindern, meine Halbschwester. Zugegeben hatte ich keine Beziehung zu ihr. Ich hatte sie nicht 'lieb', so wie das bei kleinen und großen Schwestern üblich war, aber ich hasste sie auch nicht. Eben neutral, als würde ich sie erst seit ein paar Minuten kennen und hätte mir noch keine Meinung gebildet. Gerade saß sie in ihrem Kindersitz, der teurer gewesen war als mein halbes Leben und spielte mit einer in rosa gekleideten Barbiepuppe. "Michelle mein Engel, bitte nicht deiner Puppe in den Kopf beißen. Du weißt doch, dass wir die Bissspuren nicht mehr wegbekommen", sagte die zuckersüße Stimme von Fiona, der neuen Frau meines Vaters. Sie war meine Stiefmutter und so behandelte ich sie auch. Solange sie unseren Vater glücklich machte, durfte sie bleiben, doch als die beiden uns damals gesagt hatten, dass Alfie und ich noch eine Schwester bekamen, war meine Welt ein Stück zusammengebrochen. Ich weiß es ist kindisch, aber es fühlte sich an als hätte er uns ersetzt, nachdem Mama gestorben war. Mein Vater heißt Jules und ich bin sein Ebenbild. Blond, blaue Augen und ein markantes Kinn, auf das jeder Mann neidisch sein könnte. Der einzige Unterschied: Er hatte einen Bart und ich lange Haare.

"Fünf Minuten, Alf. Freust du dich auf dein letztes Jahr in der Schule?", fragte mein Vater und schaute in den Rückspiegel, wobei er eher mich anguckte, anstatt meinen Bruder.
"Nahhh. Ich weiß was du hören willst, aber die Jungs und ich wollen dieses Jahr Spaß haben und nicht in unseren Zimmern hocken und lernen", antwortete mein Bruder und zwinkerte mir zu. 'Spaß haben'. Wohl eher ahnungslose Mädels anmachen und hinter ihren Rücken Wetten abschließen, wer sie zuerst entjungfert. Mein Bruder ging auf ein Jungsinternat, allerdings hieß das nicht, dass die hormongesteuerten Ärsche ihre Finger bei sich behielten und sich auf ihre schulischen Aktivitäten konzentrierten, immerhin lebten sie dann wochenlang ohne Eltern in einer Stadt voller hübscher Frauen. Klingt für uns wie ein Albtraum, ist allerdings wirklich so. Warum er mir sowas überhaupt erzählte, wusste ich nicht, aber wahrscheinlich, weil er wusste, dass es mich ärgerte, wie gut er sich amüsierte.
"Du solltest lernen, wenn du immer noch den Traum hast Ingenieur zu werden", sagte mein Vater trocken. Er kannte Alfies Geschichten schon, aber anstatt ihm eine Standpauke zu halten, gab er sich damit zufrieden ihn immer wieder daran zu erinnern, dass es wichtig ist, gut in der Schule zu sein.
Alfie verdrehte die Augen und sah dann erneut mich an.
"Hauptsache ich stecke nicht das ganze Jahr in einer Schule fest, wo nur Mädchen rumlaufen, die einen Stock im Arsch haben", kommentierte er.
"Alfie! Solche Wörter!", quietschte Fiona und tat so, als würde sie gerade einen mega wichtigen Job als Mutter erledigen. Alfie redete von meiner Schule. Die Jane Austen Boardingschool in Winchester. Es kümmerte ihn nicht das seine Schule den selben Träger hatte. Es reichte ihm, dass er meine Freundin Violet kannte, die ihn letztes Jahr hat abblitzen lassen.
Das Auto stoppte. Zum Vorschein kam ein modernes Schulgebäude, mit riesigen Fenstern und hohen Backsteinsäulen. Viel Grün gab es auf dem Schulhof nicht, aber dafür reichlich eintönige Bankreihen, die sich entlang einer tannengrünen Hecke zogen, die somit das einzige pflanzliche Individuum darstellte.
Es war bereits voll. Autos versuchten einzuparken, Jungs verschiedener Kulturen liefen über Zebrastreifen oder begrüßten sich brüderlich mit einem Handschlag, während andere Wenige sich tatsächlich innig von ihren Eltern verabschiedeten.
"Ich habe gesagt wir hätten früher losfahren sollen. Jetzt bekommen wir keinen Parkplatz mehr, Bärchen", jammerte Fiona und starrte auf den überfüllten Schülerparkplatz.
"Ich muss auf's Klo!", meldete sich Michelle trotzig und schmiss ihre Barbie gegen die Rückseite des Beifahrersitzes.
"Gleich mein Spatzi", erwiderte ihre Mutter. Michelle schmollte und kaute beleidigt auf ihrer Unterlippe herum. Mein Vater drehte seinen Kopf ein paar Mal hin und her, suchte nach einem freien Platz, seufzte dann aber und sagte: "Alfie. Caprice. Nehmt Michelle an die Hand und geht mit ihr eine Toilette suchen. Fiona und ich werden einen Parkplatz suchen und kommen mit den Taschen nach". Bloß nicht.

~Rich and dead~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt