Kapitel 6: Aufteilung

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Ich stürmte die Treppen hoch, hinein in das Zimmer von Esme und mir, bevor ich begann nach meinem Handy zu wühlen. Ich fand es schließlich unter meinen Schlafklamotten wieder und tippte nervös die Handynummer meines Vaters. Ich wusste, ich würde ihn Zuhause nie erreichen und Fiona mit der komplizierten Aufgabe, meinem Vater etwas ausrichten zu müssen, zu überfordern, wollte ich vermeiden. Es wäre sowieso besser ihm direkt von den Geschehnissen zu berichten. Ich hielt nervös mein Handy ans Ohr und lauschte dem monotonen Piep-Ton, der länger dauerte als gehofft. "Mist", murmelte ich und legte auf. "Er ist nicht da. Wie überraschend". Ich schlug mir die Hand gegen die Stirn und fragte mich, wieso ich es überhaupt versucht hatte, als die Tür hinter mir aufging. "Ist alles in Ordn-?".

In dem Moment erlebte ich wohl den Schreck meines Lebens und das erste, was mir in den Sinn kam, war ein Fausthieb, den Alfie mir vor Jahren mal gezeigt hatte, sollte ich mich mal zu Wehr setzten müssen. Ich holte also aus und mit all der Kraft die ich aufbringen konnte, schlug ich die Person, die so plötzlich in meinem Zimmer aufgetaucht war, und traf sie perfekt in der Mitte des Gesichts. "Verdammte scheiße", zischte daraufhin der braunhaarige Junge, der mir gegenüberstand. "Kenan?", fragte ich überrascht und beobachtete ihn dabei, wie er seine Nase mit schmerzverzerrtem Ausdruck hielt. "Du hast mir bestimmt die Nase gebrochen. Was zur Hölle sollte das?" Schlicht und einfach ein Reflex, würde ich sagen, doch wahrscheinlich war es auch diese komische Situation und die Tatsache, dass er mich überrascht hatte. "Es wird schon nicht so schlimm sein. Zeig mal her". Ich ging vorsichtig auf ihn zu, doch er schaute mich skeptisch an und wich einen Schritt zurück. Ich erkannte, dass seine Nase tatsächlich blütig war, doch ich glaubte kaum, dass ich genug Kraft hätte aufbringen können um sie tatsächlich zu brechen. Hastig sah ich mich nach einem Taschentuch oder etwas vergleichbarem um, doch das einzige was mir ins Auge fiel war eine Packung Tampons, die Esme und ich unten in dem leeren Schrank versteckten. "Jetzt komm schon her. Ich habe nicht vor nochmal draufzuschlagen oder so", erklärte ich Kenan, der mittlerweile Probleme hatte mit dem ganzen Blut klarzukommen.

Als ich mich dieses Mal näherte, blieb er mehr oder weniger ruhig stehen und ich konnte endlich seine Nase betrachten. Vielleicht würde es sich nun endlich mal auszahlen, dass Fiona mich dazu gezwungen hatte immer diese Krankenhausserien mit ihr zu gucken. "Sieht es sehr schlimm aus?", fragte er nervös und ich nahm vorsichtig seine Hand von seinem Gesicht. Wer hätte gedacht, dass ich so gut treffen würde? Ich konnte es mir nicht verkneifen und begann leise zu lachen. In so einer absurden Situation war ich noch nie gewesen. "Was genau ist jetzt daran so lustig?", fragte Kenan leicht genervt und sah mir in die Augen.
"Deine Nase ist nicht gebrochen. Es wird gleich aufhören zu bluten", sagte ich und beschloss im selben Moment tatsächlich, ihm einfach ein Tampon in die Nase zu stecken. Esme würde mich umbringen, wenn sie nachher Blutflecken in unserem Teppich finden würde und ich hatte eigentlich noch einige Dinge vorgehabt, bevor ich das Zeitliche segnen werde.

Ich öffnete also den Schrank, bückte mich nach der Tamponpackung und nahm eines heraus. "Hier! Das saugt das Blut auf!" Ich streckte ihm freudig den noch eingepackten Tampon entgegen, worauf er mit einem angeekelten Gesichtsausdruck antwortete und die verletzte Nase kraus zog. "Du hast aber schon bemerkt, dass ich ein Typ bin, oder?", fragte er verstört und ich konnte nicht umhin ihn unbeeindruckt anzusehen. "Wenn du auf den Teppich blutest, dann-", "ist es deine Schuld", beendete er meinen Satz. Er hatte irgendwie Recht. "Okay. Klar. Es tut mir leid, aber ich versuche dir zu helfen, also hör verdammt nochmal auf so stur zu sein und steck dir diesen Tampon in die Nase!" Ich hielt es ihm erneut hin und durchbohrte ihn mit bestimmendem Blick, bis er es nach Ewigkeiten tatsächlich annahm, auspackte und seine blutende Nase behandelte.

Ich sah ihn an. Wieso stand er eigentlich hier in meinem Zimmer?
"Willst du mir jetzt verraten, warum du mir gefolgt bist? Wenn die Lehrer das rauskriegen, fliegst du", erinnerte ich ihn, worauf er nur mit den Schultern zuckte. Aus irgendeinem Grund war diese minimale Geste so attraktiv, zumindest, wenn sie von ihm kam. Kenan war nicht gerade ein Mensch von dem man einen guten ersten Eindruck hatte, vor allem wenn er seinen Mund aufmachte und den Unsinn redete, den er sonst so von sich gab. Jetzt wirkte er eher mitgenommen, was wohl an seiner blutenden Nase liegen musste und er hatte auch nicht seine üblichen Sprüche benutzt, was mich hellhörig machte.
"Machst du dir Sorgen, du könntest keine Zeit mehr mir mir verbringen, Kleine?". Er zwinkerte. Zu früh gefreut. "Ich schöpfe nur die Hoffnung in Ruhe mein Schuljahr zu absolvieren", konterte ich und lächelte ihn triumphierend an. Mein ganzes Leben hatte ich damit verbracht Alfie Konter zu geben, also konnte sein großer, aber eher ungefährlicher Freund doch kein Problem für mich sein. "Wenn es das ist, was dich nachts schlafen lässt, Süße". Ich zog die Augenbrauen hoch, biss mir herausfordernd auf die Unterlippe und bemerkte viel zu spät, dass diese Aktion auch falsch verstanden werden können. Besonders von jemanden wie Kenan erwartete ich nichts anderes. "Ich schlafe tatsächlich sehr gut so".

~Rich and dead~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt