part eight

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oder der Part, in dem ich das Gefühl habe, von Lance gestalkt zu werden

avoid the blame - cory wells
*

"Er hat dich nicht ernsthaft vor dem Golden Hours abgefangen, oder?", Andra dreht sich mit einem Küchenmesser in der Hand zu mir um. Sie sieht mich verblüfft an und öffnet ihre Lippen leicht.

"Doch. Und er hat mich gefragt, ob wir uns nicht die Woche treffen wollen. Er hat mir nämlich anscheinend richtig viel zu erzählen." Ich ziehe meinen Fuß auf den Stuhl und stütze meinen Kopf auf dem Knie ab.

"Kein Wunder, dass du so blass aussiehst. Ich bin ziemlich überrascht, hat Lance da vielleicht irgendwas nicht ganz verstanden?", sie hält sich das Messer gedankenverloren an den Mund, was mich aufschrecken lässt. Ich kenne Andra, ihr zweiter Vornahme ist tollpatschig.

"Andra, du solltest die Tomaten weiter klein schneiden, die müssen alle noch in den Topf", versuche ich sie von einem Unfall abzuhalten. Es ist Mittwoch Abend, der einzig freie Tag diese Woche und ich verbringe ihn mit Andra, die extra ihre Vorlesungen für den Tag geschwänzt hat. Lances Gespräch liegt nicht mal 24 Stunden zurück.

"Wie hast du reagiert, Maus?", will sie wissen und dreht sich wieder zur Anrichte um. "Hast du dich mit ihm verabredet?"

Ich nippe an meinem Weinglas. Taylor ist für heute drei Tage unterwegs, weshalb ich also für kurze Zeit alleine in der Wohnung lebe. Naja, abgesehen von Sunny, die sich aber nicht wirklich aus ihrer Sofaecke entfernt. "Hätte ich das tun sollen?", stelle ich die Gegenfrage, weil sich Andra so anhört, als würde sie mir einen Vorwurf machen wollen. Als sie nicht direkt antwortet, erhebe ich mich von meinem Stuhl und lehne mich neben sie an die Anrichte. Armeverschränkend blicke ich sie an.

"Schau mich nicht so an, Maya. Du weißt doch genau wie Lance ist. Ich meine, niemand kennt ihn so gut wie du. Kommt es dir dann nicht auch irgendwie komisch vor? Er weiß doch, dass er..."- sie hält inne und sieht mich unsicher an. Ich nicke ihr ermutigend zu, sie kann ruhig sagen, was ihr auf der Zunge liegt. "Du weißt schon, dich eben sehr verletzt hat damals. Würde er jetzt wirklich so ankommen, wenn er das im Hinterkopf hat? Ich bezweifle es."

Ich versuche Andras Worten langsam zu folgen. Seufzend stoße ich mich von der Anrichte ab und raufe mir die Haare. Das ist viel zu viel für mich. "Ich habe das Gefühl, er ist mir ein Fremder. Ich kenne ihn nicht mehr, woher soll ich das wissen?" Damit entleere ich mein Weinglas auf ex.

Schon komisch, wenn man bedenkt, dass Lance und ich zusammen waren, seit wir vierzehn gewesen sind. Gut, ich meine, für uns war schon klar, dass wir den Rest des Lebens miteinander verbringen würden, da waren wir nicht mal zehn. Gott, wie naiv ich gewesen bin. Mit achtzehn dachte ich doch tatsächlich, ich würde mit diesem Typen irgendwann auf unsere Enkelkinder aufpassen.

"Gehen wir am Wochenende feiern?", versuche ich meine beste Freundin abzulenken, wohl bemerkt, dass sie darauf auf jeden Fall anspringen wird. Und um ehrlich zu sein, habe ich das Gefühl, ich sollte jemanden kennenlernen.

"Meinst du das Ernst?", Andra hält in ihrer Bewegung inne und dreht sich erneut zu mir um. Ihre Augen sind riesig. "Ich kann was klar machen", meint sie. "Also es werden so oder so Partys stattfinden, aber ich kann filtern und entscheide mich dann für die Party mit der meisten Klasse." Sie grinst, und ich bin glücklich, dass das Thema Lance erstmal vom Tisch ist.

*

Meine Schicht am Donnerstag endet wieder um elf, und leider Gottes muss ich es heute ohne Kyle durchstehen, der meistens nur an Wochenenden hier aushilft. Es gibt insgesamt drei Kellner, mit denen ich mich hier verstehe. Naja, Kyle zähle ich zu meinen Freunden, obwohl wir uns nie privat treffen. Deswegen doch nur zwei weitere Arbeiter, mit denen ich zurecht komme. Lillian ist die Tochter des Restaurantchefs. Sie ist nett, aber link. Man kann sich mit ihr unterhalten, sollte aber aufpassen, was man sagt. Das könnte nämlich schnell beim Chef landen. Und Bruce. Bruce ist streng, er hat mich hier damals vor einem Jahr circa, eingelernt. Aber er redet mit mir, und das ist sein Pluspunkt.

Um kurz nach elf verlasse ich das Golden Hours und atme tief durch. Die kalte Luft weht mir entgegen und fühlt sich wie Freiheit auf meiner Haut an. Es wird immer kälter und düsterer, je mehr sich das Jahr dem Ende nähert. Und obwohl es erst Mitte Oktober ist, habe ich das Gefühl, dass-

"May."

Heilige Scheiße, ich zucke zusammen und lasse mein Handy dabei beinahe fallen. Ich drehe mich nach rechts und sehe Lance an der Wand neben dem Eingangsbereich lehnen. Ich muss zweimal hingucken, um mir auch wirklich sicher zu sein, dass ich ihn richtig identifiziert habe. Verdammt, was macht er hier.

"Verdammt, was machst du hier?"

Lance stoßt sich von der Wand ab und kommt einen Schritt auf mich zu. Seine Haare stehen in alle Richtungen ab und seine Nase ist gerötet, woraus ich deute, dass er schon eine Weile hier draußen stehen muss.

"Ich wollte dich nicht erschrecken. Sorry." Das ist nicht die Antwort auf meine Frage gewesen und als hätte er meine Gedanken gelesen, spricht er weiter. "Ich muss mit dir reden, May. Es ist wirklich dringend." Er sieht auch so aus, als müsse er dringend etwas loswerden, aber ganz ehrlich, ich will es nicht hören.

"Maya, ich"-

Ich unterbreche ihn und bin überrascht von mir. "Scheiße, Lance. Es geht hier aber nicht um dich." Ich hole tief Luft und trete einen Schritt zurück. "Das, was du mir zu sagen hast, interessiert mich nicht, okay? Dein Zug ist vor zwei Jahren abgefahren." Damit will ich mich umdrehen und von ihm wegstampfen, allerdings hält er mich am Arm fest, was mich daran hindert.

Mein Blick folgt meinem Arm und macht an seinen großen Fingern halt, die meinen Unterarm umgreifen. "Erinnerst du dich noch an die erste Regel die wir an meinem 10. Geburtstag aufgestellt haben?", will Lance wissen und sieht mich flehend an. Sein Atem streift mein Gesicht und sein Duft zieht in meine Nase.

Ungläubig starre ich ihn an. Das ist jetzt nicht sein Ernst, oder? Er greift auf die Regeln zurück, die er und ich vor Ewigkeiten aufgestellt haben, damit das mit ihm und mir für immer halten würde. Dass er so gut wie neun von zehn Regeln damit gebrochen hat, dass er einfach abgehauen ist, werfe ich ihm nicht an den Kopf. So sehr ich es auch versuche, ich kann das Kribbeln, was seine Hand um meinen Arm in meinem ganzen Körper auslöst, nicht ignorieren.

"Vergiss es Lance. Dafür ist zu viel passiert." Ich reiße meinen Arm mit Ruck aus seiner Hand heraus und entferne mich noch ein paar Schritte von ihm. Ich habe mich getäuscht, ich dachte, die Phase, in der ich wütend auf ihn gewesen bin, wäre vorbei. Update: ist sie nicht. Ich bin immer noch wütend. Und es macht mich noch viel wütender, dass Lance keine Ahnung davon hat, was er mir mit seiner Abreise angetan hat.

Lance sieht mich an, seine Kieferknochen sind angespannt, er denkt nach. Dann schließt er die Augen und seufzt, aber da habe ich mich schon längst umgedreht und bin in schnellen Schritten über die Straße gegangen. Was erwartet er auch? Dass ich ihm mit Freudentränen in den Augen in die Arme springen würde? Er hat mich zutiefst verletzt, so leicht lässt sich die Wunde in meinem Herzen nicht schließen.

Mit Gedanken an Lances 10. Geburtstag raufe ich mir die Haare. Höre dir an, was der jeweils Andere zu sagen hat, bevor du mit ihm abschließt, das ist Regel Nummer Eins gewesen. Und der Grund, warum ich durch den Park laufe und mir mit den Handrücken die Tränen wegwische.

Verflucht seist du Lance.

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my heart I surrenderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt